Der Mann, der den Zügen nachsah
schrieb: Meinung von Frau Popinga: Irresein oder Gedächtnisschwund.
Sie würde mit dieser Meinung nicht allein dastehen. Ein
junger Handlungsgehilfe in Julius’ Firma, ein Siebzehnjähriger, den er selbst engagiert hatte, erklärte mit Nachdruck:
Ich hatte schon bemerkt, daß momentweise seine Augen seltsam aufblitzten…
Und Dr. Claes schließlich äußerte selbstgefällig:
Offenbar ist die Handlungsweise von Popinga nur mit einem plötzlichen Irresein zu erklären. In der Frage, ob er dazu ein Motiv gehabt hat, verbietet mir meine berufliche Diskretion…
Also »Irresein« auf der ganzen Linie! Bis zu dem Moment, da man vermutete, er könnte womöglich Julius de Coster noch vor Pamela umgebracht haben. Doch dann hatte der alte Copenghem den Presseleuten gestanden:
Es ist mir peinlich, schlecht über einen Mann zu reden, der ein Mitglied in unserem Schach-Zirkel war, aber auch für einen unparteiischen Beobachter ist es klar, daß Kees Popinga stets verbittert war, auf keinem Gebiet jemand über sich dulden wollte und immer Rachepläne schmiedete. Und daß dieser Minderwertigkeitskomplex bei ihm zu einer fixen Idee wurde, erklärt uns, wie es dazu kommen konnte, daß er…
Popinga schrieb in sein Notizbuch neben den Namen Copenghem: Minderwertigkeitskomplex. Dann in kleinerer Schrift: Hat mich nur einmal im Schach besiegt, durch Überrumpelung. Daher also!
Um zehn Uhr nahm er nicht einmal mehr Notiz davon, daß in dem Café kein Platz mehr frei war und daß er auf der Bank bis ans Ende hatte rücken müssen. Von Zeit zu Zeit blickte er von seinen Zeitungen oder seinem Notizbuch auf, betrachtete irgendein fremdes Gesicht, verzog die Brauen und dachte schon nicht mehr daran. Und das wiederholte sich, als er unter den Anwesenden vier oder fünf Neger bemerkte. Die Blumenhändlerin war immer noch da. Außerdem gutangezogene Leute Seite an Seite mit sehr schlecht gekleideten. Er wußte nicht, daß er sich hier in den Kulissen von Montmartre befand, in Gesellschaft der Statisten und kleinen Chargen, während in allen Etablissements des Viertels das Fest eben erst begann.
Der Bahnbeamte in Groningen erinnerte sich an einen aufgeregten Mann, der…
Belustigt notierte er: Stimmt nicht. Daß man von Irresein und von Minderwertigkeitskomplex sprach, mochte noch hingehen, aber zu behaupten, er sei bei der Abfahrt von Groningen aufgeregt gewesen, weil er zwei Stunden später Pamela umbringen würde… War er etwa jetzt aufgeregt, trotz der zwei Tassen Kaffee, die er getrunken hatte?
Der Gipfel aber war der Portier von dem Hotel in Amsterdam, den Popinga hätte ohrfeigen mögen.
Schon bei seiner Ankunft ist mir aufgefallen, daß er nicht ganz normal war, und ich habe daran gedacht, Fräulein Pamela zu warnen…
Kees notierte: Warum hat er es nicht getan?
Als er hereinkam, sagte der Portier weiter, hatte er die Physiognomie eines gehetzten Tieres, und…
Und Popinga notierte sarkastisch: Ihn fragen, was er unter Physiognomie versteht!
Dann hob er den Kopf, denn jemand stand vor ihm und betrachtete ihn von oben bis unten. Es war ein junger Mann im Smoking. Hinter ihm war Jeanne Rozier, die flüsternd sagte:
»Mein Freund Louis!… Ich lasse euch jetzt…«
»Können Sie einen Moment mitkommen?« sagte Louis, Hände in den Taschen, Zigarette zwischen den Lippen. »Lassen Sie das alles liegen! Gehen wir hinunter…«
Er nötigte seinen Begleiter zum Lavabo, eine Treppe tiefer, und dort sah er ihn prüfend von Kopf bis Fuß an und brummte: »Jeanne hat mir die Geschichte erzählt. Ich habe auch einen Blick in die Zeitungen getan. Sagen Sie, haben Sie das oft, solche Ideen?«
Popinga lächelte. An der Art, wie sein Begleiter ihn ansah, etwas spöttisch, direkt in die Augen, spürte er: der würde weder von Verrücktheit noch von Minderwertig keitskomplex reden.
»Es war das erste Mal!« erwiderte er und mußte ein Lächeln unterdrücken.
»Und der andere, der Alte?«
»Die haben doch nichts begriffen. Julius de Coster, der schlechte Geschäfte gemacht hatte, ist auf und davon, nachdem er einen Selbstmordversuch vorgetäuscht hat. Aus eben dem Grund bin ich, weil ich bei ihm…«
»Schon gut! Ich habe jetzt keine Zeit. Können Sie fahren?«
»Auto? Gewiß doch!«
»Wenn ich Jeanne richtig verstanden habe, brauchen Sie also einen Unterschlupf, wo Sie abwarten können, bis man Ihnen neue Papiere verschafft.«
Er nahm die Zigarre von Popinga, um daran seine
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