Der Mann, der die Frauen belog - Roman
aufhören kann.«
Hatten Riccalo und seine damalige Frau in dem Concerto auch einen Schrei gehört? Die magische Generalpause wirkte auf alle Menschen unterschiedlich. Einmal, als Halbwüchsiger und heftig in Louisa verliebt, hatte Charles sie sogar lachen hören. Doch das war in dem großen Saal gewesen, in dem sie mit Malachai auftrat und in dem durch die Dunkelheit und Malachais Kunst die Phantasie der Zuschauer ohnehin auf so etwas programmiert war.
»Weil Louisa so jung gestorben ist, haben wir nur diese eine Komposition von ihr. Es war alles, was Malachai von ihr geblieben war, als er aus dem Koreakrieg kam. Er hat das Stück bei jeder Vorstellung spielen lassen.«
»Bei seiner Vorstellung mit einer Toten.«
»Einer unsichtbaren Toten. Sie fungierte ganz so wie eine lebendige Assistentin, reichte ihm Gegenstände zu, die zu ihm hinschwebten, ohne dass man ihre Hand sah. Aber man glaubte an diese Hand. Er war ein glänzender Illusionist.«
»Billige Tricks. Drähte und so Sachen.«
»Mag sein. Malachai verstand sich aber auch auf Horror.«
Jetzt war Justin hellwach.
»Er schickte Louisa ins Publikum. Die Zuschauer schworen Stein und Bein, sie hätten gespürt, wie sie an ihnen vorbeiging und wie ihr Kleid sie streifte. Manche sagten, sie hätten ihr Parfüm gerochen.«
»Und was für technische Tricks hatte er dafür auf Lager?«
»Gar keine. Wenn er sie ins Publikum schickte, hatte er seine Zuschauer schon so weit, dass sie ihm alles glaubten.«
»Alle?«
»Je größer die Menge ist, desto leichter hat es ein Illusionist. Für eine Massenhypnose oder gar Massenpsychose braucht es viele Menschen – wie der Name schon sagt. Mit dieser geballten Energie lässt sich eine Menge anfangen.«
»Aber richtig gesehen hat sie keiner?«
»Ja und nein. Er beschrieb sie so genau, dass ich sie heute noch vor mir sehe. Bei ihren Auftritten trug sie das Kleid, in dem sie gestorben ist. Ein blaues Kleid mit roten Blutflecken.«
»Wie ist sie denn gestorben?«
»Das kam nie heraus, es gehört zu dem Geheimnis um Louisa. Es hieß, Malachai habe sie umgebracht, andere Gerüchte wollten wissen, man habe sie als Spionin erschossen. Es war alles sehr romantisch. Als ich so alt war wie du, vielleicht noch jünger, war ich in Louisa verliebt.«
»Da waren Sie also genauso verrückt wie Malachai?«
»Mag sein. Aber bei Malachai war es wirklich ein Wahn. Es ist erstaunlich, was Menschen fertigbringen, um eine Liebe zu bewahren, zu zerstören oder zu rächen. Manch einer geht für seine Liebe sogar in den Tod.«
Während er mit Justin sprach, rätselte Charles gleichzeitig an dem herum, was Amanda getan hatte. »Schneiden Sie es raus«, hatte sie zu dem Arzt gesagt. Sie, die sich so unbändig auf das Kind gefreut hatte.
»Sich als Erwachsener zu verlieben«, sagte das Kind, das neben ihm stand, »ist demnach gar nicht so toll.«
Charles lächelte. »Auch die Liebe zu einem Kind führt manchmal zu recht sonderbaren Verhaltensweisen. Was so manche Menschen für ihre Kinder tun …«
»Und was sie ihnen antun.«
»Ja, auch das.«
Warum hast du dir dein Kind herausschneiden lassen, Amanda? Mit einiger Mühe schaltete er wieder auf Justin um. War er missbraucht worden? War es das, was ihn und Mallory verband? Denn dass es eine Gemeinsamkeit zwischen den beiden gab, stand für ihn fest.
Auch er und der Junge hatten einiges gemeinsam. Justin Riccalo hatte seine Kindheit ebenfalls unter Erwachsenen verbracht. Er sprach nicht wie ein Kind, weil er keinen Kontakt zu Kindern hatte, von denen er altersgerechte Sprüche und Kraftausdrücke hätte lernen können. Wenn er gängige Modewörter benutzte, hatte er sie bei den Großen aufgeschnappt.
Da war das alte Grammophon! Charles pustete notdürftig den Staub weg, dann zog er die Holzkiste mit den Schellackplatten unter einem Tisch hervor, setzte sich auf den Boden und sah sie durch. Der Junge neben ihm zuckte und zappelte, er konnte keinen Augenblick stillstehen.
»Wie kommst du denn mit deiner Stiefmutter zurecht, wenn nicht gerade Bleistifte durch die Luft fliegen?«
»Ich kenn mich nicht so richtig mit ihr aus.«
»Deine Stiefmutter und dein Vater sind alte Bekannte, oder?«
»Sie haben mal in der gleichen Firma gearbeitet, aber da hat wohl meine richtige Mutter noch gelebt. Mit der hab ich mich auch nie so richtig ausgekannt.«
»Nein?«
»Die meiste Zeit war ich ja in der Schule. Weil meine Eltern auf diesen progressiven Quatsch voll abgefahren sind, haben sie mich
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