Der Mann, der ins KZ einbrach
hinunterklettern, um aus dem Waggon zu kommen. Man führte uns einen Feldweg entlang. Nach ungefähr drei Kilometern kamen wir in ein Lager, das in einer hübschen Landschaft lag. Verglichen mit allem, was ich bisher gesehen hatte, konnte ich es kaum fassen. Das Lager umfasste zehn mit Geschick errichtete Holzgebäude, und es gab Rasenflächen. Die Anlage wurde von einem einfachen Drahtzaun umschlossen. Hier wird es uns ziemlich gut gehen, sagte ich mir. Ein paar Hundert gefangene alliierte Soldaten waren schon drin. Die Gebäude hatten elektrisches Licht, fließendes Wasser, Latrinen, auf denen man sitzen konnte, und Zentralheizung. Auf den Doppelstockpritschen lagen mit Stroh gefüllte Matratzen und sogar brauchbare Decken. Ich hörte irgendwann, das Lager sei für die Hitlerjugend errichtet worden. Danach sah es auf jeden Fall aus.
Von den anderen Gefangenen erfuhr ich, wo wir uns befanden: nicht weit südlich einer polnischen Stadt namens Oświęcim.
Am nächsten Morgen wurden wir um halb sieben geweckt. Wir marschierten durch die Tore und zweieinhalb Kilometer über Felder und durch Wald, bis die schöne Landschaft abrupt verschwand. Vor uns lag eine riesige Baustelle, die sich in sämtliche Richtungen ausbreitete. Rauch quoll aus Schornsteinen und Dampfkränen. Das düstere Gerippe eines höllischen Fabrikkomplexes wuchs in Eisen und Beton aus dem Schlamm empor. Darüber tanzte ein Schirm aus Sperrballons an Stahlkabeln. Dieses Areal war unser Ziel.
Überall auf der Baustelle sahen wir merkwürdige Gestalten, die sich schleppend bewegten – Hunderte, Tausende von ihnen. Alle trugen zerlumpte, schlecht sitzende gestreifte Hemden und Hosen, die mehr nach Pyjamas als nach Arbeitsanzügen aussahen. Sie hatten graue Gesichter und geschorene Köpfe, die von winzigen Mützen nur unvollständig bedeckt waren. Sie erinnerten an sich bewegende Schatten, gestaltlos und verschwommen, als könnten sie jeden Augenblick ins Nichts verblassen. Ich wusste nicht, wer oder was sie waren.
Die anderen Kriegsgefangenen nannten sie »Stripeys«, die »Gestreiften«. Sie sagten mir auch den eingedeutschten Namen für die polnische Stadt Oświęcim. Er lautete Auschwitz.
Den bemitleidenswerten Gestalten war fast alles genommen worden, was das Menschsein ausmacht, das sah ich sofort. Auf ihrer Kleidung trugen sie den Davidsstern. Sie waren Juden.
Wir wurden in »Arbeitskommandos« von zwanzig bis dreißig Mann aufgeteilt und zu verschiedenen Fabrikbaustellen abgestellt, die alle in einem eigenen eingezäunten Bereich lagen. Die Arbeit begann sofort. Wir mussten Baumaterial und schwere Rohre auf der Baustelle transportieren und Kabel legen. Ich sah sofort, wie es ablief: Wenn schwere Lasten gehoben werden mussten, wurde nach den armen Gestreiften gerufen, die plötzlich, als wären sie der Erde entstiegen, um das Rohr, das Ventil oder das Kabel herumschwärmten, das bewegt werden sollte. Sie mussten so zahlreich erscheinen, weil sie körperlich so schwach waren. Ich sah Männer, die Zementsäcke buckelten, und andere, die sich mit Schubkarren abmühten.
Brutale Vorarbeiter standen neben ihnen, Knüppel oder dicke geknotete Seile in der Hand. Diese Vorarbeiter waren die »Kapos«. Selbst Lagerinsassen, entschieden sie über Leben und Tod ihrer Mithäftlinge, und sie nutzten diese Macht ohne jede Hemmung. Ich verabscheute sie auf der Stelle. Bald schon wurde ich Zeuge, wie ein Häftling wegen irgendeiner Lappalie von einem Kapo totgeschlagen wurde. Ich konnte es nicht fassen, dass ein Menschenleben so billig war. Selbst in der Wüste hatten wir den Tod intensiver wahrgenommen. Hier gab man nicht einmal den Preis einer Gewehrpatrone aus, um das Leben eines »Gestreiften« zu beenden. Stiefel und Knüppel reichten.
Zu dieser Zeit wurden die jüdischen Häftlinge von uns getrennt gehalten. Wenn einer von ihnen mit uns sprach, riskierte er, erschossen oder totgeschlagen zu werden. Nachts kehrten wir in unser vergleichsweise angenehmes Lager zurück, während die »Gestreiften« weggeführt wurden, Gott allein wusste, wohin.
Die Fabrik wurde vom Chemieriesen IG Farben errichtet, vor allem, um »Buna« zu produzieren, synthetischen Gummi für Hitlers Kriegsmaschinerie, außerdem Methylalkohol als Brennstoff. Die Baustelle war in Ost-West-Richtung über drei Kilometer lang und mehr als anderthalb Kilometer breit. Innerhalb dieses stacheldrahtgesicherten Geländes, das wie ein großes Raster angelegt war, gab es zahlreiche einzelne
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