Der Mann, der kein Mörder war
nach Datum und Thema sortierte. Am Ende lagen insgesamt zwölf Stapel vor ihr, die sie aufmerksamer durchsah. Die Methode, das Material etappenweise zu katalogisieren, hatte sie von Ursula gelernt. Der große Vorteil daran war, dass man sich schnell einen Überblick über das Vorhandene verschaffte und dieselben Dokumente mehrmals und mit zunehmender Konzentration durchsah. Auf diese Weise entdeckte man leichter außergewöhnliche Muster oder Begebenheiten und erhöhte die Treffsicherheit. Systeme entwickeln – das konnte Ursula gut. Vanja musste plötzlich daran denken, was Sebastian über die Hierarchie der Gruppe gesagt hatte. Er hatte recht. Ursula und sie hatten eine stumme Übereinkunft, nicht im Spezialgebiet der anderen herumzutrampeln. Dabei ging es nicht nur um Respekt, sondern auch um die beiderseitige Einsicht, dass sie ansonsten schnell in einen Wettstreit gerieten und so die Position der anderen in Frage stellen würden. Denn eigentlich konkurrierten sie schon darum, auf welcher Stufe des Entscheidungsfindungsprozesses sie standen. Um Resultate. Darum, die Beste zu sein.
Vanja widmete sich dem übrigen Material. Die losen Papiere hatten nichts ergeben, außer, dass Rogers Mathekenntnisse schlechter gewesen waren als sein Schwedisch und sein Englisch ausbaufähig. Sie betrachtete die schwarzen Taschenkalender. Sie sahen ziemlich unbenutzt aus und gingen von 2007 bis heute. Sie nahm sich den aktuellsten Kalender vor und begann mit dem Januar. Roger hatte nicht viel hineingeschrieben, es wirkte eher so, als hätte er den Kalender zu Weihnachten bekommen und dann allmählich damit aufgehört, ihn zu benutzen. Einige Geburtstage waren darin notiert, Hausaufgaben und Klassenarbeiten, aber je weiter das Jahr fortschritt, desto weniger Notizen gab es.
Die Abkürzung PW tauchte zum ersten Mal Anfang Februar auf, dann wieder Ende Februar und in der ersten Märzwoche, um sich dann jeden zweiten Mittwoch um 10 Uhr zu wiederholen. Sie fiel Vanja sofort auf – es schien die einzige wiederkehrende Notiz zu sein. Sie blätterte bis zu jenem schicksalsschweren Freitag im April vor. Jeden zweiten Mittwoch stand dort PW . Immer um zehn. Wer oder was war PW ? Da die Termine innerhalb der Schulzeit lagen, mussten sie wohl etwas mit der Schule zu tun haben. Sie blätterte über den Freitag hinaus und sah, dass Roger nach seinem Tod einen Termin mit PW verpasst hatte. Vanja schnappte sich den Kalender des letzten Jahres, um zu prüfen, ob PW auch hier auftauchte. So war es. Zum ersten Mal Ende Oktober, dann jeden zweiten Dienstag um 15 Uhr, regelmäßig bis Ende November.
Rogers Freundeskreis war ansonsten sehr begrenzt und hatte bisher nur wenig zu den Ermittlungen beigetragen. Hier gab es immerhin eine Person, die er regelmäßig getroffen hatte; falls es wirklich eine Person war und keine Aktivität. Sie sah auf die Uhr, es war erst Viertel vor neun. Auf keinen Fall zu spät, um anzurufen. Zuerst versuchte sie es bei Rogers Mutter Lena. Sie ging nicht ran. Damit hatte Vanja auch nicht gerechnet. Als sie mit Sebastian dort war, hatte das Telefon mehrmals geklingelt, und Lena hatte keinerlei Anstalten gemacht, aufzustehen.
Sie beschloss, stattdessen Beatrice Strand anzurufen. Als Klassenlehrerin musste sie am besten wissen, was Roger jeden zweiten Mittwoch um zehn gemacht hatte.
«Da hatte er eine Freistunde.» Beatrice klang etwas müde, schien aber gewillt, zu helfen.
«Und wissen Sie, was er in dieser Zeit tat?»
«Leider nein, die nächste Stunde begann um Viertel nach elf, und er war immer pünktlich.» Vanja nickte und nahm den Kalender des letzten Jahres in die Hand.
«Und letzten Herbst? Dienstags um 15 Uhr?»
Einen Moment lang war es still.
«Ich glaube, da war der Unterricht schon beendet. Ja, so war es, dienstags hörten wir immer schon um Viertel vor drei auf.»
«Wissen Sie, was die Abkürzung PW bedeuten könnte?»
« PW ? Nein. Nicht aus dem Stegreif.»
Vanja nickte. Es wurde immer besser. Roger hatte seine Treffen mit PW jedenfalls vor Beatrice verheimlicht. Das war sicherlich wichtig. Sie war ja nicht nur seine Lehrerin gewesen, sondern sie hatten sich auch außerhalb der Schule gekannt.
«Hat er mittwochs einen PW getroffen?», fragte Beatrice nach einer Weile. Offenbar hatte sie weiter über die Abkürzung nachgedacht.
«Ja, genau.»
«Das könnte Peter Westin sein.»
«Wer ist das?»
«Ein Psychologe, der mit unserer Schule zusammenarbeitet. Ich weiß, dass Roger ein paarmal bei
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