Der Mann, der kein Mörder war
Bett zu gehen.
Dann waren sie bei Jonathan angelangt, der ewigen Endstation in den Überlegungen ihrer Mutter.
Wollte sie denn wirklich nicht wieder Kontakt zu ihm aufnehmen? Er war doch so nett.
Noch vor wenigen Monaten hatte sich Vanja immer wütend verteidigt, wenn Jonathan zur Sprache kam. Sie platzte fast vor Wut darüber, dass ihre Mutter die ganze Zeit versuchte, sie mit ihrem Ex zu verkuppeln, ohne zu verstehen, dass Vanja das als Geringschätzung empfand. Jetzt fand sie es einfach nur herrlich normal. Sie ließ das Gerede und Flehen ihrer Mutter sogar noch eine Weile länger über sich ergehen. Ihre Mutter schien selbst darüber verwundert zu sein, dass der große Widerstand ausblieb; ihre Argumente verloren an Kraft, und schließlich gelangte sie an den Punkt, an dem Vanja selbst sonst irgendwann landete.
«Tja, aber du bist ja jetzt schon groß und kannst deine eigenen Entscheidungen treffen.»
«Danke, Mama.»
Dann kam der Vater ans Telefon. Er habe beschlossen, heute Abend zu ihr zu fahren und sie zu besuchen. Er werde keine Ausreden akzeptieren, sagte er, und Vanja versuchte es nicht einmal. Sie, die ihre zwei Welten sonst immer strikt trennte, spürte, dass sie sich an diesem Abend gern überschneiden durften. Er würde den Zug um 18:20 Uhr nehmen. Vanja versprach, ihn am Bahnhof abzuholen. Sie legte auf und ging zurück zur Praxis. Dort erhielt sie von Peter Westins Kollegen dessen Privatadresse. Der Mann schien ein wenig genervt zu sein, versprach aber, Westin Bescheid zu sagen, dass die Polizei mit ihm habe sprechen wollen. Vanja setzte sich ins Auto. Rotevägen 12. Sie gab die Adresse in ihr Navi ein. Die Fahrt dorthin würde fast dreißig Minuten dauern, und sie hatte versprochen, um zehn zur Teambesprechung wieder im Büro zu sein. Westin musste warten.
Torkel betrat den Konferenzraum, in dem sich die anderen bereits versammelt hatten. Ursula warf einen fragenden Blick an Torkel vorbei, als er hereinkam.
«Wo hast du denn Sebastian gelassen?»
War Torkel an diesem Morgen nur besonders empfindlich, oder gab es einen Unterschied zwischen den Fragen «Wo ist Sebastian» und «Wo hast du denn Sebastian gelassen»? Letzteres klang, als wären sie unzertrennlich. Der kleine Bär und der kleine Tiger, Ernie und Bert, Torkel und Sebastian. «Wo hast du denn Sebastian gelassen?» Mit dieser passiven und zugleich aggressiven Art zu fragen konnte sie Torkel klarmachen, dass sie den Eindruck hatte, Sebastian wäre ihm wichtiger als sie. Als ob er eine solche Spitze nötig hätte. Wenn sie wüsste! In diesem Moment wäre Torkel sogar dazu bereit gewesen, Sebastian für qualvolle medizinische Versuche zur Verfügung zu stellen. Aber der Morgen hatte schon schlimm genug angefangen, da brauchte er sich nicht auch noch mit Ursula zu streiten.
«Er ist unterwegs», antwortete er deshalb nur, zog einen Stuhl heran und setzte sich. Über den Tisch hinweg griff er nach der Thermoskanne und schenkte sich Kaffee in einen Pappbecher. «Ist Mikael schon da?»
Neutraler Tonfall, belanglose Frage.
«Kommt erst heute Nachmittag.»
«Schön.»
«In der Tat.»
Vanja horchte auf. Zwischen Ursula und Torkel herrschte ein spezieller Ton. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn je gehört zu haben. Oder doch, in ihrer Kindheit, bei ihren Eltern, wenn diese nicht zugeben wollten, dass sie sich gestritten hatten. Wenn sie sich höflich und neutral unterhielten, damit die Tochter glaubte, alles wäre in Ordnung. Das hatte damals schon nicht funktioniert, und tat es auch jetzt nicht. Vanja schielte zu Billy hinüber. Ob er es auch bemerkt hatte? Anscheinend nicht. Er schien völlig auf seinen Laptop konzentriert.
Sebastian kam herein, nickte in die Runde und setzte sich. Vanja beobachtete Ursula heimlich. Sie warf erst Sebastian einen finsteren Blick zu und dann Torkel, bevor sie dazu überging, die Tischplatte anzustarren. Was war hier eigentlich los? Torkel nahm einen Schluck Kaffee und räusperte sich.
«Billy, du kannst dann anfangen.»
Billy richtete sich auf, klappte den Laptop zu, nahm einen kleinen Stapel DIN -A4-Seiten vom Tisch und erhob sich.
«Ich habe gestern Abend die Gesprächslisten von der Telefongesellschaft bekommen und heute Morgen die vom Kriminaltechnischen Labor. Ich habe jetzt alles mal zu einem Dokument zusammengefügt.»
Billy ging um den Tisch herum und teilte die Blätter aus. Vanja wunderte sich, warum er sie nicht einfach in die Mitte legte, damit sich jeder sein Exemplar nehmen
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