Der Mann, der kein Mörder war
detaillierten Einblick in den Fall, was ganz entscheidend für unseren weiteren Erfolg sein kann.»
Vanja sah Torkel voller Bewunderung an. Sie selbst hatte Haraldsson längst in ihre « HF -Schublade» gesteckt. Ein hoffnungsloser Fall, der kurz seine Meinung zu dem Fall äußern durfte, damit man ihn dann so weit wie möglich von den Ermittlungen fernhalten konnte.
«Also soll ich mit Ihnen zusammenarbeiten?»
«Sie sollen in enger Abstimmung mit uns arbeiten.»
«Wie eng?»
«Das werden wir sehen. Wir können ja heute damit anfangen, dass Sie uns über alles informieren, was bisher geschehen ist, und dann entscheiden wir weiter.» Torkel legte eine Hand auf Haraldssons Schulter und lenkte ihn sanft in Richtung Tür.
«Wir sehen uns später», rief er Hanser über die Schulter hinweg zu. Billy ging zurück zu der Sitzecke, um ihr Gepäck zu holen. Vanja blieb irritiert stehen. Sie hätte schwören können, dass der ehemalige leitende Ermittler die ersten Schritte neben Torkel gegangen war, ohne zu humpeln.
Lena Eriksson saß in dem kleinen Wartezimmer und schob sich zum wiederholten Mal eine Läkerol-Pastille in den Mund. Die Schachtel hatte sie an ihrem Arbeitsplatz mitgehen lassen. Sie hatte im Regal direkt neben der Kasse gelegen. Eukalyptus. Nicht gerade ihre Lieblingssorte, doch sie hatte bei Ladenschluss einfach die nächstliegende genommen und in die Tasche gesteckt, ohne genau hinzusehen.
Gestern.
Als sie noch davon überzeugt war, dass ihr Sohn lebte. Als sie blind diesem Polizisten geglaubt hatte, der behauptet hatte, alles deute darauf hin, dass Roger nur ein paar Tage abgehauen sei. Vielleicht nach Stockholm. Oder woanders hin. Ein kleines Teenagerabenteuer.
Gestern.
Von diesem Tag trennte sie nun eine ganze Welt. In der die Hoffnung noch lebte. Und heute war ihr Sohn für immer fort. Ermordet, in einem Tümpel aufgefunden, ohne Herz.
Nachdem sie die Nachricht von seinem Tod erhalten hatte, hatte sie die Wohnung den ganzen Tag über nicht verlassen. Sie hätte die Polizistin schon früher treffen sollen, doch sie hatte angerufen und den Termin verschoben. Zweimal. Sie kam einfach nicht hoch. Eine Weile fürchtete sie, nie wieder die Kraft zu haben, um aufstehen zu können. Also blieb sie sitzen. In ihrem Sessel, im Wohnzimmer, in dem sie immer weniger Zeit miteinander verbracht hatten, sie und ihr Sohn. Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal gemeinsam dort gesessen hatten – einen Film gesehen, gegessen, geredet, einfach nur gelebt hatten. Sie wusste es nicht mehr. Vermutlich kurz nachdem Roger auf diese schreckliche Schule gekommen war. Schon nach wenigen Wochen mit diesen Bonzenkindern hatte er sich verändert. Letztes Jahr hatten sie zunehmend getrennte Leben geführt.
Die Boulevardreporter klingelten immerzu, aber sie wollte mit niemandem reden, noch nicht. Irgendwann legte sie den Hörer vom Festnetztelefon nebendran und schaltete ihr Handy aus. Da kamen sie zu ihr nach Hause, riefen durch den Briefschlitz, hinterließen Nachrichten auf ihrer Fußmatte. Aber sie öffnete niemandem die Tür, stand nicht aus ihrem Sessel auf.
Ihr war schrecklich übel. Der Automatenkaffee, den sie nach ihrer Ankunft getrunken hatte, fuhr in ihrer Speiseröhre Fahrstuhl. Hatte sie seit gestern überhaupt etwas gegessen? Wohl nicht, aber getrunken, Alkohol. Das tat sie sonst nie, jedenfalls nicht in nennenswerten Mengen. Sie war sehr zurückhaltend, was Außenstehende nicht unbedingt von ihr vermuten würden. Lenas eigenhändig blondierten Haare mit dem dunklen Ansatz und ihr Übergewicht. Ihr Nagellack, der von den Nägeln ihrer knubbeligen, mit Ringen besetzten Finger abblätterte, und ihr Piercing. Ihre Vorliebe für schlabberige Jogginghosen und weite T-Shirts: Die meisten Menschen bildeten sich schnell eine Meinung über Lena, wenn sie ihr begegneten. Und tatsächlich bestätigte sich ein Großteil ihrer Vorurteile auch. Lena hatte die Schule nach der achten Klasse abgebrochen, war mit siebzehn schwanger geworden. Sie war chronisch pleite. Eine Alleinerziehende mit schlechtbezahltem Job. Aber ein Drogenproblem? Nein, das hatte sie nie gehabt.
Heute hatte sie allerdings getrunken. Um die leise Stimme zu betäuben, die sich unmittelbar nach der Todesnachricht in ihrem Hinterkopf bemerkbar gemacht hatte und die über den Tag hinweg an Stärke zugenommen hatte. Die leise Stimme, die sich weigerte, zu verschwinden.
Lena bekam Kopfschmerzen. Sie brauchte frische Luft
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