Der Mann, der kein Mörder war
und eine Zigarette. Sie erhob sich von dem Stuhl, nahm ihre Handtasche vom Boden und ging zum Ausgang. Ihre abgelaufenen Absätze hallten einsam auf dem Steinboden. Als Lena ihr Ziel fast erreicht hatte, eilte eine etwa fünfundvierzigjährige Frau im Kostüm durch die Drehtür. Mit entschlossenen Schritten kam sie auf Lena zu.
«Lena Eriksson? Ich bin Kerstin Hanser, Polizei Västerås. Es tut mir leid, dass ich zu spät bin.»
Im Aufzug sprachen sie kein Wort, und als sie das Kellergeschoss erreicht hatten, öffnete Hanser die Tür und hielt sie Lena auf. Sie gingen den Korridor entlang, bis sie von einem kahlköpfigen Mann mit Brille und weißem Kittel empfangen wurden. Er führte sie in einen kleineren Raum, wo eine einzige neonbeleuchtete Bahre stand. Unter dem weißen Laken zeichneten sich deutlich die Konturen eines Körpers ab. Hanser und Lena gingen langsam näher. Der Kahlköpfige trat ruhigen Schrittes an das Kopfende, blickte Hanser an und nickte kurz. Dann schlug er langsam das Laken zurück und entblößte Roger Erikssons Gesicht und Hals bis zum Schlüsselbein. Lena sah schweigend auf die Bahre hinab, während Hanser respektvoll einen Schritt zurücktrat. Die Frau neben ihr hatte weder heftig nach Luft geschnappt noch einen Schrei unterdrückt. Kein Schluchzen, keine Hand, die reflexartig zum Mund schnellte. Nichts.
Es war Hanser bereits aufgefallen, als sie sich kurz vor dem Eingang getroffen hatten. Lena sah nicht verheult aus. Nicht verstört oder verkrampft. Sie wirkte beinahe ruhig. Im Aufzug hatte Hanser jedoch einen halspastillengedämpften Alkoholgeruch vernommen und vermutet, dass dies die Ursache für Lena Erikssons mangelnde Gefühlsregungen war. Das, und der Schock.
Lena stand unbeweglich da und sah auf ihren Sohn hinab. Was hatte sie erwartet? Eigentlich nichts. Sie hatte nie daran zu denken gewagt, wie er aussehen würde. Sich nicht vorstellen können, wie es wäre, hier zu stehen. Und wie die Zeit im Wasser ihn verändert haben würde. Er war tatsächlich etwas aufgedunsen, als hätte er einen allergischen Anfall erlitten. Doch davon abgesehen sah er aus wie immer, fand sie. Das dunkle Haar, die helle Haut, die markanten, schwarzen Augenbrauen, der leichte Bartansatz über der Oberlippe. Die geschlossenen Augen, leblos. Was sonst.
«Ich habe gedacht, er würde aussehen, als wenn er schläft.»
Hanser schwieg. Lena wandte sich zu ihr um, als wollte sie von Hanser eine Bestätigung für ihren Eindruck.
«Er sieht nicht aus, als würde er schlafen.»
«Nein.»
«Ich habe ihn so viele Male schlafend gesehen. Besonders, als er noch kleiner war. Ich meine, er ist stumm. Er hat die Augen geschlossen, aber …»
Lena beendete den Satz nicht. Stattdessen streckte sie ihre Hand aus und berührte Roger. Er war kalt. Tot. Sie ließ die Hand an seiner Wange ruhen.
«Ich habe meinen Sohn verloren, als er vierzehn war.»
Lena berührte noch immer die Wange des Jungen, drehte sich aber ein wenig in Hansers Richtung.
«Ja?»
«Ja …»
Erneutes Schweigen. Warum hatte sie das gesagt? Hanser hatte es nie zuvor in ähnlichen Situationen erwähnt. Aber irgendetwas war mit der Frau an der Bahre. Hanser hatte das Gefühl, dass Lena Eriksson ihre Trauer nicht zuließ. Es nicht konnte. Vielleicht nicht einmal wollte. Hanser hatte etwas Tröstendes sagen wollen, sozusagen als ausgestreckte Hand, um zu zeigen, dass sie begriff, was Lena durchmachen musste.
«Wurde er auch ermordet?»
«Nein.»
Plötzlich fühlte Hanser sich dumm. Als ob ihr Kommentar als Leidensvergleich gedacht gewesen wäre, «ich habe auch jemanden verloren, nur dass Sie es wissen». Doch Lena schien mit den Gedanken bereits woanders. Sie hatte sich wieder abgewandt und betrachtete erneut ihren Sohn.
So viele Jahre, in denen er das Einzige gewesen war, auf das sie hatte stolz sein können.
Beziehungsweise so viele Jahre, in denen er das Einzige gewesen war, das sie hatte.
Punkt.
Ist es deine Schuld?,
begann die leise Stimme erneut zu fragen. Lena zog ihre Hand weg und trat einen Schritt zurück. Ihr Kopfschmerz zeigte keine Gnade.
«Ich glaube, ich möchte jetzt gehen.»
Hanser nickte. Während die beiden Frauen zur Tür gingen, zog der Kahlköpfige das Tuch wieder über den Leichnam.
Lena kramte ein Zigarettenpäckchen aus ihrer Tasche hervor.
«Gibt es jemanden, den Sie anrufen können? Vielleicht sollten Sie jetzt lieber nicht allein sein.»
«Aber das bin ich nun mal. Ich bin jetzt allein.»
Lena verließ den
Weitere Kostenlose Bücher