Der Mann, der kein Mörder war
deutlichen Blick auf ihre Uhr warf. Eine Geste, die Ann-Charlotte offenbar verstand.
«Lisa wird sicher bald fertig sein. Hätten wir gewusst, dass Sie kommen …» Ann-Charlotte machte eine entschuldigende Geste.
«Das macht nichts. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Gelegenheit bekomme, mit ihr zu sprechen.»
«Ja natürlich. Wenn wir irgendwie behilflich sein können … Wie geht es denn seiner Mutter? Lena, heißt sie nicht so? Sie muss ja völlig am Boden zerstört sein.»
«Ich habe sie noch nicht getroffen», antwortete Vanja, «aber so wird es wohl sein. War Roger Einzelkind?»
Ann-Charlotte nickte und sah plötzlich noch bekümmerter aus. Als habe man ihr soeben fast alle Probleme der Welt aufgebürdet.
«Sie hatten es ja nicht leicht. Soweit ich weiß, hatten sie eine Weile finanzielle Schwierigkeiten, und dann dieser Ärger in Rogers früherer Schule. In letzter Zeit schien er endlich keine Probleme mehr zu haben. Und dann passiert so etwas.»
«Hatte er auf seiner vorherigen Schule Ärger?», fragte Vanja.
«Er wurde gemobbt», sagte eine Stimme im Türrahmen.
Vanja und Ann-Charlotte drehten sich um. In der Tür stand Lisa. Ihr glattes Haar fiel weich und ordentlich gekämmt über ihre Schultern. Der Pony wurde von einer einzelnen Spange aus dem Gesicht gehalten. Sie trug ein weißes Hemd, das fast bis zum Hals zugeknöpft war, darüber eine einfache Strickweste. An ihrem Hals baumelte ein goldenes Kreuz an einer Kette, die sich am Hemdkragen verfangen hatte. Dazu trug sie einen Rock, der direkt über dem Knie endete, und dicke Strumpfhosen. Vanja musste sofort an ein Mädchen aus irgendeiner Fernsehserie aus den Siebzigern denken, die wiederholt wurde, als sie klein war. Nicht zuletzt wegen Lisas ernster, beinahe beleidigter Miene. Vanja erhob sich von ihrem Stuhl und streckte ihre Hand dem Mädchen entgegen, das nun die Küche betreten hatte und an der Schmalseite des Tisches einen Stuhl herauszog.
«Hallo, Lisa, ich heiße Vanja Lithner. Ich bin Polizistin.»
«Ich habe aber doch schon mit einem Polizisten gesprochen», antwortete Lisa und nahm gleichzeitig Vanjas ausgestreckte Hand, drückte sie kurz und machte einen Knicks. Dann setzte sie sich. Ann-Charlotte stand auf und holte eine Tasse aus einem der Küchenschränke.
«Ich weiß», fuhr Vanja fort und setzte sich wieder, «aber ich arbeite in einer anderen Abteilung, deshalb würde ich es wirklich zu schätzen wissen, wenn du auch mit mir sprechen würdest, obwohl ich möglicherweise dieselben Sachen wissen will.»
Lisa zuckte mit den Achseln und griff nach der Müslipackung auf dem Tisch. Dann schüttete sie eine ansehnliche Menge davon in den tiefen Teller vor ihr.
«Du sagst, dass Roger in seiner alten Schule gemobbt wurde, weißt du denn auch, von wem?» Lisa zuckte erneut mit den Schultern.
«Es waren alle, glaube ich. Jedenfalls hatte er dort keine Freunde. Er wollte nicht so viel darüber sprechen. Er war einfach nur froh, dass er dort wegkam und stattdessen auf unsere Schule gehen konnte. Lisa griff nach der Sauermilch und bedeckte das Müsli mit einer dicken Schicht. Ann-Charlotte stellte ihrer Tochter eine Tasse Tee hin.
«Roger ist ein guter Junge. Ruhig. Sensibel. Reif für sein Alter. Es ist völlig unbegreiflich, dass er …» Ann-Charlotte beendete ihren Satz nicht. Sie setzte sich wieder auf ihren Platz. Vanja schlug ihren Notizblock auf und schrieb «alte Schule – Mobbing» auf. Dann wandte sie sich Lisa zu, die sich gerade einen Löffel Müsli mit Sauermilch in den Mund schob.
«Wenn wir zu diesem Freitag zurückgehen, an dem er verschwand. Kannst du mir sagen, was ihr gemacht habt, ob etwas Besonderes passiert ist, als Roger hier war? Erzähl mir alles, woran du dich erinnern kannst, egal, wie gewöhnlich oder unbedeutend es auch erscheinen mag.»
Lisa ließ sich Zeit, kaute und schluckte, bevor sie Vanja mit festem Blick ansah und antwortete.
«Das habe ich doch schon getan. Als der andere Polizist da war.»
«Ja, aber wie ich schon gesagt habe, ich muss es noch einmal hören. Wann kam Roger hierher?»
«Irgendwann nach fünf. Vielleicht halb sechs.» Lisa blickte ihre Mutter hilfesuchend an.
«Eher halb sechs», sagte Ann-Charlotte. «Erik und ich mussten um halb sechs los, und wir waren gerade auf dem Weg nach draußen, als Roger kam.» Vanja nickte und notierte.
«Und was habt ihr gemacht, als er hier war?»
«Wir waren in meinem Zimmer. Haben ein paar Hausaufgaben gemacht, die wir für Montag
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