Der Mann, der kein Mörder war
aufhatten, und dann haben wir uns einen Tee gekocht und ‹Let’s Dance› geguckt. Um kurz vor zehn ist er dann gegangen.»
«Hat er gesagt, wo er hin wollte?»
Lisa zuckte wieder mit den Schultern.
«Nach Hause, hat er gesagt. Er wollte wissen, wer diesmal rausfliegen würde, aber das erfährt man erst nach den Nachrichten und der Werbung.»
«Und wer ist rausgeflogen?»
Vanja beobachtete, wie der Löffel stockte, der gerade mit einer neuen Ladung Müsli und Sauermilch zu Lisas Mund wanderte. Nicht lange. Kaum merklich, aber dennoch. Das Zögern war vorhanden. Vanja hatte zunächst nur über Belangloses sprechen wollen. Eine gute Taktik, um ein Gespräch nicht als Verhör erscheinen zu lassen. Doch die Frage hatte Lisa überrumpelt, da war Vanja sich sicher. Lisa aß weiter.
«Chwßnch …»
«Sprich nicht mit vollem Mund», unterbrach Ann-Charlotte sie. Lisa verstummte. Sie kaute ausführlich, den Blick ununterbrochen auf Vanja gerichtet. Wollte sie Zeit gewinnen? Warum hatte sie nicht geantwortet, bevor sie den Löffel in den Mund gesteckt hatte? Vanja wartete. Lisa kaute. Und schluckte.
«Ich weiß nicht. Ich habe nach den Nachrichten nicht weitergeguckt.»
«Und was für Tänze haben sie getanzt? Erinnerst du dich daran?» Lisas Blick verfinsterte sich. Nun war Vanja sich sicher. Aus irgendeinem Grund irritierten die Fragen sie.
«Keine Ahnung, wie die heißen. Wir haben nicht so genau hingesehen. Wir haben geredet und Musik gehört und so. Ein bisschen gezappt.»
«Ich verstehe nicht, warum der Inhalt einer Fernsehserie so wichtig sein sollte, wenn es darum geht, den- oder diejenigen zu finden, die Roger das angetan haben», unterbrach Ann-Charlotte. Mit einem leicht irritierten Scheppern stellte sie ihre Tasse ab. Vanja wandte sich ihr mit einem Lächeln zu.
«Ist er auch nicht. Ich wollte nur ein bisschen plaudern.» Sie wandte sich erneut Lisa zu, noch immer lächelnd. Lisa lächelte nicht zurück. Sie blickte Vanja trotzig an.
«Hat Roger an diesem Abend erwähnt, dass ihn irgendwas beunruhigt?»
«Nein.»
«Und er wurde von niemandem angerufen? Keine SMS , über die er nicht sprechen wollte oder die ihn beunruhigte?»
«Nein.»
«Also verhielt er sich nicht anders als sonst, auch nicht unkonzentriert oder so etwas?»
«Nein.»
«Und er sagte nichts davon, dass er noch zu jemand anders gehen wollte, als er hier aufbrach gegen … zehn, war es nicht so?»
Lisa musterte Vanja kritisch. Wen versuchte diese Polizistin hier eigentlich reinzulegen? Sie wusste ganz genau, dass Lisa ihr gesagt hatte, Roger wäre gegen zehn gegangen. Sie wollte sie testen. Um zu sehen, ob sie sich in Widersprüche verwickelte. Aber damit würde sie keinen Erfolg haben. Lisa hatte alles gut einstudiert.
«Ja, er ist um zehn gegangen, und nein, er sagte, er wolle nach Hause gehen und sehen, wer rausfliegen würde.» Lisa streckte sich und nahm eine Scheibe Brot aus dem Korb. Ann-Charlotte mischte sich erneut ein.
«Das hat sie doch schon gesagt. Ich verstehe nicht, warum sie wieder und wieder dieselben Fragen beantworten soll? Glauben Sie ihr etwa nicht?» Ann-Charlotte klang fast gekränkt. Als wäre allein der Gedanke daran, dass ihre Tochter vielleicht nicht die Wahrheit sagte, zutiefst anstößig. Vanja sah Lisa an. Möglicherweise fand ihre Mutter das anstößig – aber Lisa verheimlichte etwas. Etwas war an diesem Abend vorgefallen. Etwas, das Lisa nicht erzählen wollte. Jedenfalls nicht im Beisein ihrer Mutter. Lisa hobelte einige Scheiben Käse ab und legte sie mit langsamen, umständlichen Bewegungen auf das Brot. Hin und wieder warf sie Vanja einen Blick zu. Sie musste vorsichtig sein. Diese Frau war bedeutend klüger als der Polizist, mit dem sie in der Schulcafeteria gesprochen hatte. Jetzt war es wichtig, sich an die auswendig gelernte Geschichte zu halten. Die Uhrzeiten zu wiederholen. An Einzelheiten des Abends musste sie sich nicht erinnern, es war nichts Besonderes passiert.
Roger kam. Hausaufgaben. Tee. Fernsehen. Roger ging.
Sie konnte sich schließlich auch nicht an jedes Detail von einem normalen, ein bisschen langweiligen Freitagabend erinnern. Außerdem stand sie unter Schock. Ihr Freund war tot. Wäre sie besser darin gewesen zu weinen, hätte sie jetzt ein paar Tränchen herausgepresst. Die Mutter dazu gebracht, das Gespräch abzubrechen.
«Natürlich glaube ich ihr», sagte Vanja in ruhigem Tonfall, «aber Lisa ist die letzte Person, die Roger an diesem Abend lebend gesehen
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