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Der Mann, der kein Mörder war

Der Mann, der kein Mörder war

Titel: Der Mann, der kein Mörder war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hjorth , Rosenfeldt
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Strand war wie immer mit dem Bus nach Hause gefahren. Sie stieg eine Haltestelle früher aus, um Luft zu schnappen. In der Schule war das unmöglich. Zu Hause ebenso. Rogers Tod war überall spürbar wie ein Dammbruch, der alle Menschen mit sich riss. Ihr Schüler, für den sie sich so eingesetzt hatte. Johans Freund, mit dem er so viel Zeit verbracht hatte. So etwas passierte einfach nicht. Freunde starben nicht. Schüler wurden nicht ermordet im Wald aufgefunden.
    Normalerweise brauchte sie acht Minuten von der Bushaltestelle bis zu dem Kiesweg, der zu ihrem blassgelben, zweistöckigen Haus führte. Heute waren es fünfunddreißig. Nicht, dass Ulf sie vermissen würde. Es war ihm schon lange egal, wann sie nach Hause kam.
    Das Haus war still, als sie es betrat.
    «Hallo?»
    Nichts.
    «Johan?»
    «Wir sind hier oben», kam als Antwort.
    Mehr nicht. Kein «ich komme runter» oder «wie geht’s dir?». Nur Schweigen. Wir sind hier oben. Immer Ulf und Johan. Immer seltener sie alle drei. Wen versuchte sie eigentlich zu belügen?
Nie
sie alle drei.
    «Ich setze Teewasser auf», rief sie und bekam wieder keine Antwort.
    Beatrice stellte den Wasserkocher an. Sie blieb stehen und starrte auf die rote Lampe am Gerät. Verlor sich in Gedanken. In den ersten Tagen hatte sie darum gekämpft, dass die Familie zusammenkam, redete, sich gegenseitig stützte. Wie Familien es normalerweise taten. In schweren Stunden. Einander stützen. Doch Johan wollte nicht. Er zog sich immer mehr von ihr zurück. In dieser Familie tat man alles gemeinsam mit dem Vater, auch das Trauern. Sie wurde ausgeschlossen, aber sie dachte nicht daran aufzugeben. Sie holte die großen Teetassen mit dem französischen Obstmuster hervor und stellte sie zusammen mit Honig und Würfelzucker auf ein Tablett. Betrachtete die ruhige Wohnstraße durch das Fenster. Bald würde sie die rosaweißen Blüten, die sie so liebte, im Blick haben. Ihr Kirschbaum hatte gerade die ersten Knospen entwickelt. Früh in diesem Jahr. Die Familie hatte ihn einst gemeinsam gepflanzt, vor einer gefühlten Ewigkeit. Johan, der damals fünf Jahre alt gewesen war, hatte darauf bestanden, selbst das Loch auszuheben, und sie hatten ihn kichernd gewähren lassen. Sie erinnerte sich noch daran, was sie gesagt hatte: Eine richtige Familie besitzt einen Obstbaum.
    Eine richtige Familie. Der Wasserkocher schaltete sich aus, und sie goss das dampfende Wasser in die Tassen. Drei Teebeutel. Dann ging sie die Treppen hinauf. Zu dem, was von ihrer richtigen Familie noch übrig war.
    Johan saß am Computer und spielte irgendein Gewaltspiel, bei dem es darum ging, so viele Menschen wie möglich zu erschießen. «First Person Shooter» hieß es, wie sie gelernt hatte. Ulf hatte es sich auf der Kante des Jugendbettes bequem gemacht und sah zu. Als sie die Tür öffnete und das Zimmer betrat, blickte Ulf sie an. Immerhin etwas.
    «Habt ihr Hunger?»
    «Nein. Wir haben gerade gegessen.» Beatrice stellte das Tablett auf der Kommode ab, in der die Mangabücher ihres Sohnes verstaut waren.
    «War die Polizei heute hier?»
    «Ja.»
    Erneutes Schweigen. Beatrice ging zu ihrem Sohn und legte still die Hand auf seine Schulter. Ließ sie dort ruhen und konnte seine warme Haut durch das T-Shirt spüren. Für eine Sekunde hoffte sie, er würde es zulassen.
    «Mama …» Ein Ruck mit der Schulter, der deutlich signalisierte, dass sie die Hand wegnehmen sollte.
    Widerstrebend zog Beatrice ihre Hand zurück, aber sie dachte nicht daran aufzugeben. Noch nicht. Sie setzte sich ein Stück von Ulf entfernt auf das Bett.
    «Wir müssen über das alles sprechen. Es hilft niemandem, sich abzuschotten», begann sie.
    «Ich spreche doch mit Papa», sagte Johan von seinem Schreibtisch aus, ohne sich umzudrehen.
    «Aber ich habe auch das Bedürfnis, darüber zu sprechen», sagte sie, und ihre Stimme zitterte ein wenig. Sie hatte nicht nur das Bedürfnis zu reden. Sie brauchte ihre Familie, vor allem ihren Sohn. Sie hatte gehofft, dass auch Johan zu ihr zurückkehren würde, nachdem Ulf es getan hatte.
    Vergessen, vergeben und weitergehen.
    Sie hatte gehofft, dass alles wieder normal werden würde. So wie früher. Vor all dem. Als sie diejenige gewesen war, der sich Johan abends mit seinen Sorgen anvertraute. Als sie in langen Gesprächen die Probleme und Freuden des Lebens miteinander geteilt hatten und sie das sein durfte, wonach sie sich sehnte, eine Mutter, eine Frau, ein Teil von etwas. Doch diese Stunden schienen

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