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Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Titel: Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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Unterfangen mit null Erfolgsaussichten bei 100 Prozent Risiko. Und ich war nicht mal bereit zu einem Prozent Risiko, denn ich war glücklich.
    Mir wurde bewusst, als wir am nächsten Morgen nebeneinander e rwachten, sie sich an mich drückte und mir zuflüsterte, wie glücklich sie über meine Rückkehr sei, dass ich es auch war. Wenn ich vor der Wahl gestanden hätte, meinen Arm und mein Vermögen zurück zu bekommen und dafür Melanie wieder zu verlieren, sprich, wenn ich alles, was seit dem Tag vor Heiligabend passiert war, ungeschehen hätte machen können, ich hätte es abgelehnt. In drei Wochen waren Pfingstferien. Mirko würde uns besuchen. Wir würden das sein, was ich mir immer gewünscht hatte, eine Familie, denn ich war mir sicher, wenn Melanie auf meiner Seite war, würde Mirko es auch sein. Nie, gegen nichts auf der Welt hätte ich diese Aussicht auf zwei Wochen Familienglück aufs Spiel gesetzt.
    Meine Flucht wirkte im Nachhinein so irreal, denn rückbli ckend war alles so einfach gegangen. Als sei ohnehin klar gewesen, dass ich es schaffe, und als hätte ein imaginärer Regisseur nur ein paar Scheinhindernisse eingebaut, damit auf Weg zurück nicht die Spannung verloren ginge. Ich begann, mich wieder als Figur in einem Film zu sehen, dessen Drehbuch nun zu seinem Happy End gekommen war.
    Aber ein Happy End ist kein Dauerzustand. Danach beginnt der Al ltag. Melanie musste zur Arbeit, und ich würde nun jeden Tag zehn Stunden Zeit haben, mir Gedanken zu machen, wie es weiter gehen sollte. Ich setzte mich an den Küchentisch und erstellte in dem karierten Schulheft, in dem Melanie ihre Ausgaben vermerkte, um nicht über ihre Verhältnisse zu leben, eine Stichpunkteliste – in meinem damaligen Überschwang sah ich das zugleich als gute Übung, das Schreiben mit der linken Hand zu lernen. Nur nicht unterkriegen lassen, es gibt für alles eine Lösung.
    „Hermann anrufen“, war der erste Punkt auf meiner Liste. Vie lleicht war ja doch noch irgendwo ein Konto oder ein Vermögenswert, eine Versicherung, die Melanie nicht gekündigt hatte. Sie hatte es gut gemeint und mich nicht in Gefahr bringen wollen, aber ihr Eifer, Honkes Forderungen zu erfüllen, grenzte schon an Naivität. Wie hätte er denn merken sollen, wenn sie mit Hermanns Hilfe ein oder zwei Millionen Mark zurückbehalten hätte? Er konnte sie vielleicht einige Monate lang kontrollieren, aber dass er sie über Jahre hinweg auf heimlichen Reichtum überwachte, dieser Gedanke war einfach absurd.
    „Arbeiten, die ich noch machen kann“, schrieb ich als näc hsten Punkt auf. Ich wollte so schnell wie möglich zu unserem Unterhalt beitragen. Ein abgeschlossenes Studium, eine Berufsausbildung, Berufspraxis, Wissen und Erfahrung, nichts davon hatte ich anzubieten. Und hätte ich mich für eine ungelernte, körperliche Arbeit beworben, hätte man mir wohl geraten, lieber Schwerbehindertenrente zu beantragen. Überhaupt waren mir offizielle Jobs oder die Gründung einer selbständigen Existenz versperrt, so lange nicht geklärt war, ob ich als Frank Fercher auf bundesdeutschen Fahndungslisten stand oder ob das Foto auf dem falschen Pass auf eine Spur zu mir führte. Aber wie hätte ich das klären können, ohne mich zu erkennen zu geben? Ich ließ den Punkt „Arbeiten“ einstweilen offen.
    „Honkes“ war der nächste Punkt. Ich ging davon aus, dass seine Killer, schon um ihr Gesicht zu wahren, ihm nicht erzählt ha tten, dass ich entkommen war. Dennoch gab es keinen Grund, mich hier sicher zu fühlen, denn er hatte angekündigt, nach Deutschland zurückzukehren. Ich würde mich in dieser Stadt nie frei bewegen und unbeobachtet fühlen können. Das einzige, was mir im Moment dazu einfiel, war: „Umzug in andere Stadt oder ins europäische Ausland in Erwägung ziehen.“
    Links neben mir, in der Küchentisch-Schublade, waren die F otos von mir in Kofferraum und Käfig. Sie ließen mir keine Ruhe. Ich würde Melanie bitten, sie zu vernichten. Überhaupt hielt ich es in dieser Wohnung nicht aus allein, sie bedrückte mich und verstärkte den Eindruck, nicht nur eingeschränkt in meinen Handlungsmöglichkeiten, sondern nach wie vor gefangen zu sein. Ich konnte nicht einfach, so wie früher, wenn die Unrast mich überkam, in ein Flugzeug steigen und mich für ein paar Wochen davonmachen, nicht einmal, wenn ich das Geld dafür noch gehabt hätte. Ich war tatsächlich eingesperrt, wenn auch großräumig, aber für mich war das schon eine latente Qual.

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