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Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Titel: Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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im Stehen noch ein Lied an. Danach strömten alle zum Ausgang. Ich sah Lina, ganz in stille Gebete versunken, mit anderen Frauen im Mittelgang. Der Pastor gesellte sich zu mir und dem Mann, den er für meine Flucht angeheuert hatte.
    „Ich dachte, der Gottesdienst dauert sechs Stunden?“, fragte ich.
    „Dauert er auch. Nach Fackel-Prozession dreimal um die Kirche geht es weiter.“
    Er grinste mich mit großen Zähnen und kleinen Augen an.
    „Herrn Jakob Neufeld du hast schon kennengelernt? Er ist ein echter Wolgadeutscher. Kennt den Weg bestens von hier bis zur Grenze Ukraine zu Ungarn.“
    „Was ich nicht verstehe...“
    Wir erreichten den Ausgang. Die Dorfbewohner begannen damit, sich zu versichern „Christus ist auferstanden“ und zu antworten „Er ist wahrhaftig auferstanden“. Sie küssten sich gegenseitig dreimal auf die Wangen, nahmen ihre Fackeln auf und formierten sich zu einem flammenden Zug um die Kirche.
    „Ich verstehe nicht“, fing ich noch einmal an, „warum Sie Geld von der Gemeinde für mich erbitten. Die Kirchenbänke kö nnen doch nicht 25.000 Dollar gekostet haben, und Sie hatten ja doppelt so viel, weil Honkes seinen Anteil nie geholt hat. Wenn Sie mir was von dem übrigen Geld leihen, schicke ich Ihnen...“
    „Ist aber nichts übrig“, unterbrach er mich. „Erinnerst du dich an den Fremden, den du kanntest vom G efängnis, kleiner Mann im grauen Anzug? Am Tag, als du an der Scheune gewartet hast, hat er mich ganz offen angesprochen, dass er weiß, dass du hier bist und mit Pirmin über die Grenze willst, aber er wird dich finden und in Gefängnis zurückbringen. Ich sage, tut mir leid, weiß nicht, wovon er spricht, aber er hat recht, wir sind unwohl mit dieser Ladung, weil Schmuggelgut darunter ist, und ob er nicht dafür sorgen kann, dass Pirmin an der Grenze unbehelligt bleibt. Er nimmt ganzen Rest Geld, über 35.000 Dollar, verspricht es und hält sein Versprechen. So war das.“
    „Aber...“
    „Erst die Prozession. Wir reden hinterher, gut?“
    „Gut.“
    Die Menschen aus dem Dorf standen mit ihren Fackeln in Zweierreihen bereit. Der Pastor ging an die Spitze, ließ sich eine Fackel geben und führte den Zug an. Der Mann, der mir mit Herr Neufeld vorgestellt worden war, bildete mit mir das Schlusslicht, ein Schlusslicht ohne Fackeln. Es wurde nicht geredet, man hörte nur die Schritte auf dem Kiesweg und das Knistern der Flammen, zuweilen fuhr ein Wind über die Köpfe.
    Kurz bevor wir um die Ki rche bogen, sah ich die unbeleuchtete Dorfstraße hinab und erkannte im Schein des Halbmondes ein Auto neben Linas Haus parken. Autos waren selten im Dorf. Nur der Pastor hatte eines, und seit ich hier war, hatte ich nur einen Personenwagen und zwei, drei klapprige Laster durchs Dorf fahren sehen. Neben dem Auto, dessen Marke aus der Entfernung nicht einzuordnen war, ragte ein schwarzer Schatten in die Höhe, ein Lichtpunkt auf halber Höhe. Ich erkannte eine Gestalt, die in unsere Richtung starrte. Groß, bullig, der Schädel saß halslos auf den Schultern – kein Zweifel, er war es. Ich zwang mich, mir nicht den Kopf nach ihm zu verrenken, bog mit dem Zug um die Ecke und sagte dann zu Neufeld:
    „Ich muss mal kurz in die Büsche.“
    Ich blieb stehen, ließ den Zug um die nächste Ecke biegen, ging die paar Schritte zurück und lugte, an die Kirchenmauer gedrückt, die Hauptstraße hinunter. Honkes rauchte in Ruhe aus, so wie er es vor dem CbT getan und mich damals damit zur Verzweiflung gebracht hatte. Es war nicht zu erkennen, ob er noch in meine Richtung starrte. Die Kirche war nicht groß. Nicht mal eine Minute, schätzte ich, dann würde der Fackelzug das erste Mal den Rundweg herum sein. Ich wartete. Hätte ich mich ins Gebüsch geschlagen, ich hätte Honkes aus den Augen verloren.
    Noch ein tiefer Zug, der Lichtpunkt wurde hell und überdeu tlich, sank von Kopf- in Hüfthöhe, schnellte wieder hoch und beschrieb einen weiten Bogen über die Straße, glimmte noch ein paar Sekunden und verlosch. Der schwarze, halslose Schatten nahm eine Tasche aus dem Kofferraum des Autos, schloss den Deckel und ging zum Haus. Ich hörte das Knirschen von Schritten, sah einen hellen Schein um die Ecke sich nähern und hastete zu den Büschen. Der Fackelzug kam um die Ecke. Die Menschen waren im stillen Gebet versunken, auch Neufeld schien zu beten und nichts daran zu finden, dass ich noch fehlte.
    Ich kann nicht behaupten, dass ich in diesem M oment wusste, was ich tat. Klar war mir,

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