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Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Titel: Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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ohne zu einem Erge bnis zu kommen. Ich schlief schlecht ein, und kaum war es mir endlich gelungen, schüttelte der Pastor mich wach. Es war stockdunkel, nur durch den Türspalt meines Zimmers schien Kerzenlicht vom Arbeitszimmer herüber. Ich war alarmiert und fuhr hoch.
    „Was ist?“
    „Zeit für Gottesdienst.“
    „Was, mitten in der Nacht? Wie spät ist es?“
    „Ein Uhr dreißig. Um zwei Uhr geht es los.“
    Er hatte mir einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd zurechtg elegt. Während ich mich anzog, erklärte er mir von seinem Arbeitszimmer aus:
    „Ostergottesdienst ist wichtigster im Jahr. Dauert sechs Stu nden.“
    „Sechs Stunden? Ich bin todmüde. Muss ich denn da unbedingt d abei sein?“
    „Du musst, weil eine Überraschung auf dich wartet. Du wirst sta unen.“
    Vom Haus des Pastors, das schräg gegenüber der Kirche stand, gi ngen wir zu einem Seiteneingang. Durch den Haupteingang strömten bereits die Dorfbewohner. Sie kamen in einem Fackelzug die Hauptstraße herauf, steckten die Fackeln vor dem Portal in den Boden, begrüßten sich mit Küssen auf die Wangen und gingen dann gemeinsam in die Kirche.
    Es war das erste Mal, dass ich das Gotteshaus nachts betrat. Es gab kein elektrisches Licht hier, aber Frauen aus dem Dorf hatten Hunderte von Kerzen angesteckt. Wir lugten durch eine Seitentür und warteten bis punkt zwei Uhr. Als das Portal g eschlossen war und alle Gottesdienstbesucher in den Bankreihen saßen, betraten auch wir die Kirche.
    Für mich war ein Platz ganz vorne am Gang freigehalten worden n eben einem Mann, den ich noch nie im Dorf gesehen hatte. Er war kräftig, gut gekleidet und wirkte nicht, als würde er sein Geld mit der Landwirtschaft verdienen. Der Pastor stellte sich an den Altar, das Gesangbuch in der Hand, worauf die Gottesdienstbesucher mit leisem Murmeln ebenfalls ihre Gesangbücher zur Hand nahmen und aufschlugen.
    „Liebe Gemeinde“, sagte Pastor Näb laut. Es war das erste Mal, dass ich ihn seinen Beruf ausüben sah, und auf einmal e rschien er mir als ein anderer Mensch: überlegener als ich ihn kannte, strenger, fast unnahbar.
    „Bevor wir das erste Lied zusammen si ngen, möchte ich euch einen Mann vorstellen, der zwar schon einige Wochen unter uns lebt, aber ihr wisst nicht, wer er eigentlich ist.“
    Er gab mir ein Zeichen, aufzustehen und zu ihm an den Altar zu kommen.
    „Das ist Frank Fercher aus der Bundesrepublik Deutschland, nicht ein alter Freund aus Studienzeit. Ich musste euch eine Notlüge sagen, weil böse Menschen diesem Mann schaden wollen. Sie haben ihn hierher entführt und ihm schon seinen Arm genommen. Nun will er zurück nach Hause, aber er hat kein Geld. Ich bitt euch, seid großherzig und helft, mit was ihr könnt. Wir singen jetzt das erste Lied.“
    Ich ging zurück zu meinem Platz und war nicht wenig irritiert über diesen Vorstoß und auch verärgert, schließlich ging es wen iger um Geld als darum, jemanden zu finden, der mich über die Grenzen brachte.
    Es wurde noch ein Lied gesungen und noch eines. Ich war todmüde und aufgekratzt zugleich, mein ganzer Körper kribbe lte, und es half nichts, meine Sitzhaltung zu wechseln. Der Pastor predigte auf Russisch. Der Mann links neben mir stieß mir in die Rippen, ich schreckte aus dem Schlaf. Er grinste mich an.
    „Ostergottesdienst hart, aber Durchhalten lohnt sich.“
    Ich nickte, ohne zu wissen, was er meinte, denn ich wollte in Ruhe gelassen werden. Dieser Mensch war mir unangenehm.
    „Immer dran denken, nächste Woche geht los.“
    „Was geht los?“
    „Na Fahrt nach Hause für dich, Bundesrepublik Deitschland, ich bring dich in Ukraine.“
    „Sie? Hat der Pastor Sie bezahlt?“
    „Wird bezahlen mit Geld, das heute sammelt in diese Gotte sdienst.“
    „Wieviel wollen Sie denn?“
    „No, so 200 D-Märker. Für jede Grenze natürlich.“
    „Die Leute hier haben doch gar keine D-Mark.“
    „Haben freilich. Von Verwandte drüben geschickt.“
    „Ihre Spargroschen.“
    So langsam begriff ich, was der Pastor da eingefädelt hatte. Offenbar war meine Heimkehr nur noch eine Frage von Tagen. Mir fiel auf, dass ich schon gar nicht mehr ernsthaft daran geglaubt hatte. Das Ziel war zum Traum entrückt. 200 Mark – ich hatte lange genug im Dorf gelebt, um dieser Summe nun einen Wert beimessen zu können. Für die Menschen hier war das ein kleiner Reichtum. Ich würde sie hundertfach dafür entschädigen.
    Der Pastor hob seine nach oben gedrehten Handflächen. Die Gemei nde stimmte

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