Der Mann der nicht zu hängen war
sie ankommen, gesetzt den Fall, sie schaffen den Aufstieg... bis dahin ist Gerd längst tot! Entweder verblutet oder erfroren. Der Mount-Kenia liegt zwar nur fünfzehn Kilometer vom Äquator entfernt, aber in der Höhe wird es entsetzlich kalt, sobald die Sonne untergegangen ist. Es ist jedoch die einzige Möglichkeit. Oelz muß versuchen, Hilfe zu holen, Medikamente zu besorgen und Leute zu finden, die Judmaier herunterbringen könnten. Er denkt an die Seilschaft von Sambesen und Amerikanern, die am Vorabend den Aufstieg wegen des Schneesturms aufgegeben hatten. Wahrscheinlich halten sie sich noch in der Hütte auf, etwas 750 Meter weiter unten. Und schließlich erklärt er seinem Freund, was er vorhat.
»Es hat doch keinen Sinn, es wird bald dunkel.«
»Ich weiß, Gerd, es wird schwierig, aber... aber man muß es wenigstens versuchen! Ich kann doch nicht einfach tatenlos hier sitzen und nichts tun! Man muß es wenigstens versuchen!«
»Ja, sicher.«
Mittlerweile fällt auch noch dichter Schnee. Oelz packt seinen Kameraden in ihre beiden Daunenjacken, wickelt ihn in einen Schlafsack und steckt ihn in den Biwaksack. Er läßt ihm alles da, was sie noch an Eßbarem haben: eine Konservendose mit Früchten. Und bevor er mit dem Abstieg beginnt, legt er noch einmal seine Hand auf die Schulter des Freundes:
»Mach’s gut, Gerd. Ich bin bald wieder da, so schnell es nur geht. Halte durch! Ich komme wieder! Ich hole dich hier raus!«
Der Abstieg wird zu einer unmenschlichen Strapaze. Der Schnee fällt so dicht, daß Oelz kaum ein paar Schritte weit sieht. Endlich, so gegen 18 Uhr, gerade als die Sonne am Äquator untergeht, erreicht er völlig erschöpft die Hütte, wo er zum Glück auf die Amerikaner und die Sambesen trifft.
Mit knappen Worten erklärt er die Situation. Ein Sambesi macht sich sofort auf den Weg zu einer anderen Hütte, wo es — wie er weiß — Erste-Hilfe-Material und auch ein Funkgerät gibt. Der Weg durch die Dunkelheit ist äußerst gefährlich, doch der Sambesi schafft es und funkt SOS an die Polizeistation im Dorf am Fuße des Mount-Kenia.
Die Nachricht verbreitet sich in Windeseile, und der »Mountain-Club« von Kenia arbeitet auf der Stelle einen Rettungsplan aus. Aber, wie bereits erwähnt, wir sind hier nicht in Österreich oder in der Schweiz, sondern mitten in Afrika. Der »Mountain-Club« ist eine Vereinigung von leidenschaftlichen Bergsteigern mit Sitz in Nairobi. Und man ist halt mehr passioniert als erfahren — und außerdem schwer zusammenzutrommeln. Die Bergfreunde sind für ein solch schwieriges Unternehmen, für solch eine Rettungsaktion, weder ausgebildet noch ausgerüstet. Aber sie können den Verletzen unmöglich da oben lassen. Und sie tun ihr Bestes.
Während der Rettungsdienst alle verfügbaren Bergsteiger der Gegend einsammelt, ist Robert Chambers, der Vorsitzende des Clubs, mit einer dürftigen Erste-Hilfe-Ausrüstung bereits am Fuße des Berges.
In der Zwischenzeit ist auch der mutige Sambesi, der SOS gefunkt hat, wieder in der Hütte eingetroffen, in der Oelz ungeduldig auf Nachricht wartet. Es ist mittlerweile fast vier Uhr morgens. Aber der Sambesi bringt Medikamente mit und vor allem die gute Nachricht, daß der Rettungstrupp bereits auf dem Weg ist. Oelz schöpft wieder Hoffnung und fragt in die Runde, ob denn jemand bereit wäre, mit ihm zu Judmaier aufzusteigen, sobald es hell wird. Und bald darauf macht er sich mit einem der Amerikaner auf den Weg.
Es schneit ununterbrochen — den ganzen Vormittag. Die beiden Männer sind schwer beladen und bald erschöpft. Vor allem der Amerikaner besitzt mehr Mut als Erfahrung. Schließlich, nach mehreren vergeblichen Versuchen, Judmaier zu erreichen, müssen sie aufgeben — keine hundert Meter von ihm entfernt. Oelz liegt im Schnee, unfähig, auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen. — So nahe bei seinem Freund, der nun seit 24 Stunden auf ihn wartet. Währenddessen nähert sich eine Gruppe von achtzehn Bergsteigern und zwanzig Trägern der Hütte. Es ist bereits Abend. Mr. Chambers, der Präsident, und vier weitere Bergsteiger kommen zuerst an. Sie sind mit Funkgeräten ausgerüstet und haben eine Art Trage, einen Tragkorb, mitgebracht für den Transport des Verunglückten. Und außerdem bringen sie eine gute Nachricht mit: Ein Hubschrauber soll aus Nairobi kommen. Die zweite Nacht vergeht mit ohnmächtigem Warten, ohne daß für Judmaier im Augenblick mehr getan werden könnte.
28. September. Sonnenaufgang.
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