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Der Mann der nicht zu hängen war

Der Mann der nicht zu hängen war

Titel: Der Mann der nicht zu hängen war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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Todeskandidaten.«
    »Nein, Thomas. Ich weiß es nicht, wirklich nicht. Aber beruhige dich. Morgen bringe ich dir alles, was du brauchst.«
    »Heute abend!«
    »Unmöglich! Das geht nicht. Soviel Papiervorrat und Umschläge haben wir hier gar nicht. Aber ich besorge es dir heute abend — nach Dienstschluß — und bring’s dir morgen früh!«
    »Bring mir wenigstens einige Blätter für diese Nacht! Bitte! Ich darf keine Minute mehr verlieren. Ich muß sofort damit anfangen.«
    Am Abend bringt Ezra Rittiman, soviel er kann: etwa ein Dutzend weiße Blätter und Umschläge. Doch Thomas will auf keinen Fall die offiziellen Kuverts des Gefängnisses verwenden. Und dafür hat er einen guten Grund. Und noch etwas braucht Thomas: die Hilfe des Wärters. Er ist seine einzige Hoffnung.
    »Ezra, paß auf: Ich habe eine riesengroße Bitte an dich, wenn du einverstanden bist. Ich vertraue dir. Hör zu!« Ezra hört — und kann es kaum fassen: Thomas hat nur noch 48 Stunden zu leben. Gerade vorhin, als der Wärter das Papier im Büro holte, hat er es erfahren. Er darf also wirklich keine Minute mehr vergeuden. Keine einzige Minute!
    Er schreibt und schreibt, wie besessen. Eine Seite — manchmal zwei Seiten pro Brief, mit Datum und Unterschrift. Dann faltet er jeden Brief sorgfältig zusammen und steckt ihn in einen Umschlag.
    Der gute Wärter Ezra Rittiman hat sich bereit erklärt, Thomas Sharp zu helfen. Er hat sozusagen den »Auftrag« übernommen. Denn ein Auftrag ist es und kein geringer. Thomas hat ihm folgendes erklärt:
    »Ich werde 210 Briefe an meinen Sohn schreiben. Und du wirst ihm jeden Monat einen schicken, bis er volljährig ist. Nur einen im Monat, verstehst du, fast achtzehn Jahre lang, bis 1931. Die Adresse schreibe ich nicht auf die Umschläge, die tippst du bitte dann selbst mit der Maschine. Es könnte ja sein, daß meine Mutter oder später auch mein Sohn in eine andere Stadt ziehen. Man kann ja nie wissen.«
    »Aber, was schreibst du ihm in diesen Briefen?«
    »Ich gebe ihm Ratschläge. Ich spreche von meinen Erfahrungen. Ich schreibe ihm alles auf, was ich eben vom Leben weiß — so, als ob ich noch lebte. So werde ich für ihn da sein über all die Jahre. Er wird es nicht anders wissen. Meine Mutter hat es mir versprochen, und du versprichst es auch. Für ihn bin ich dann weit weg, immer auf Reisen, und du übermittelst meine Briefe. Das ist alles, was er wissen darf.«
    »Und wenn er dich mal sehen will, wenn er älter wird?«
    »Auch daran habe ich gedacht. Ich erkläre ihm, warum es nicht möglich ist. Noch etwas, Ezra, in achtzehn Jahren, also im März 1931, wenn du den letzten Brief aufgegeben hast, dann, ja dann schreibst du bitte selbst einen, in dem du ihm mitteilst, daß ich drei Tage nach meinem letzten Brief gestorben bin.«
    »Und wo bist du dann gestorben? Und woran?«
    »Auf See verschollen, ertrunken, irgend so etwas. Such dir selbst was aus. Ich kann mir im Augenblick keinen anderen Tod ausdenken, als den, der jetzt auf mich wartet. Also, bitte erfinde du ihn für mich!«
    »Gut, ich werde mir schon was einfallen lassen, Thomas.«
    »Und du verpaßt nicht einen einzigen Monat, versprichst du’s mir?«
    »Ich schwöre es dir, Thomas.«
    »Weißt du, es ist nämlich sehr wichtig. Jeder Brief ist für ein ganz bestimmtes Alter. Die ersten Briefe wird ihm meine Mutter vorlesen, bis er sechs oder sieben Jahre alt ist. Die anderen wird er dann selber aufmachen, und ich bin sicher, daß er jeden Monat auf meinen Brief warten wird. Dem Zehnjährigen erzähle ich natürlich nicht dasselbe wie dem Fünfzehn-, Achtzehn- oder Zwanzigjährigen. Verstehst du, Ezra?«
    Ezra verstand. Und Thomas Sharp schrieb 210 Briefe in 48 Stunden. Dann hat er sie nach Jahren geordnet: neunzehn Briefpäckchen für die Jahre 1913 bis 1931. Vincent, sein Sohn, ist dann 21 Jahre alt, volljährig, ein Mann. Sein Vater darf sterben. Thomas Sharp wurde am 19. Oktober 1913 im Gefängnis von Saint-Quentin gehängt.
    Von nun an bringt Ezra regelmäßig die Briefe zur Post, Monat für Monat, Jahr für Jahr, ohne auch nur ein einziges Mal seinen Schwur zu brechen. Doch 1923, zehn Jahre später, wird er vorzeitig pensioniert. Eine dumme Herzgeschichte. Nicht genug, daß er seinen Beruf nicht mehr ausiiben kann, ihn quält jetzt auch ständig die Angst, daß er plötzlich an einem Herzversagen sterben könnte, von heute auf morgen. Und dann? Wer schickt die Briefe weiter? Er muß also seine Frau und seine Tochter ins Vertrauen

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