Der Mann der nicht zu hängen war
ziehen. Er erklärt ihnen alles, läßt sie schwören, das Geheimnis zu bewahren, und an seiner Stelle die Briefe weiter zu schicken, wenn er tot ist. Er hat einem Todeskandidaten sein Wort gegeben. Mutter und Tochter verstehen, wie ernst ihm die Angelegenheit ist.
Ezra lebt noch bis 1928 und kümmert sich um die seltsame Post. Jeden Monat tippt er die Adresse auf einen Umschlag und steckt einen der Briefe hinein, die 1913 in einer dunklen Zelle geschrieben wurden.
3. März 1928
»Mein Sohn!
Heute habe ich viel gearbeitet und es ist schon spät. Ich denke gerade daran, daß Du bald 18 Jahre alt wirst! Vielleicht bist Du auch schon verliebt? Die Liebe ist eine sehr merkwürdige Sache, mein Sohn. Man glaubt, daß sie einem gehört. Aber Du mußt wissen, daß sie dem Bewußtsein des Menschen entschlüpft. Manchmal liebt er, so wie man Hunger oder Durst hat. Ein andermal liebt er, wie man eine schöne Landschaft betrachtet oder wie man eine schöne Musik hört. Dann ist es eine sanfte, harmonische Liebe.
Mein Sohn, wenn Du eine Frau liebst, frage Dich immer, ob Du sie liebst wie ein Glas frisches Wasser, das man im Vorübergehen an einem Brunnen trinkt oder wie eine vertraute Landschaft, wie einen Ort, wo man sich sein Haus bauen möchte.
Bis bald, mein Sohn.
Dein Vater, der Dich sehr lieb hat.«
Am Ende des Jahres 1928 stirbt Ezra, der über den Tod hinaus treue Freund von Thomas Sharp. Und seine Tochter Marilyn übernimmt nun die »Post«. Seltsamerweise beginnt Vincent Sharp, der bis dato den Wunsch seines Vaters immer respektiert, also nicht zurückgeschrieben hatte, auf einmal doch zu antworten. Er will seinen Vater kennenlernen, unbedingt, ihn irgendwann, irgendwo treffen! Marilyn, ziemlich ratlos, findet keine brauchbare Lösung und entschließt sich zu schweigen. Sie schickt zwar weiterhin jeden Monat den seit vielen Jahren vordatierten Brief ab, und genau wie ihr Vater, tippt sie auch die Adresse auf den Umschlag, aber sie schreibt ab jetzt ohne Absender.
1929. 1930. Endlich kommt das Jahr 1931 und damit der letzte Brief. Und wie es ihr der Vater eingeschärft hat, schreibt Marilyn jetzt selbst drei Tage später an Vincent, der gerade 21 Jahre alt geworden ist:
»Lieber Mr. Sharp,
Ich habe die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, daß Ihr Vater Thomas Sharp Ihnen nicht mehr schreiben kann. Wir haben gerade erfahren, daß er drei Tage nach seinem letzten Brief an Sie verstorben ist — weit weg, in Australien. Er hat angeordnet, daß seine Leiche eingeäschert wird.
Meine Familie und ich trauern mit Ihnen. Wir haben Ihren Vater sehr geliebt...«
Auf diesen Brief folgt keine Antwort — bis zum März 1932. Da klingelt es eines Morgens an der Wohnungstür von Marilyn in San Francisco. Draußen steht ein junger Mann:
»Guten Tag. Ich komme gerade aus New York. Mein Name ist Vincent Sharp.«
»Sharp?«
»Darf ich Sie bitten, mich zu dem Grab meines Vaters zu führen? «
»Aber, Mr. Sharp, Sie wissen doch, ich habe es Ihnen letztes Jahr geschrieben...«
»Ja ja, ich weiß. Aber nicht nur das. Ich weiß über alles Bescheid. Wissen Sie, meine Großmutter hat mir alles erklärt, als ich siebzehn war. Ich stellte mit der Zeit einfach zu viele Fragen. Und ich wollte unbedingt meinen Vater sehen. Er war so großartig. Jeder seiner Briefe war so großartig. Da hat sie mir alles erzählt.«
»Ja, aber warum haben Sie sich dann nicht früher bei uns gemeldet?«
»Weil ich dem Willen meines Vaters folgen wollte bis zum Schluß. Ich wollte auch weiterhin auf jeden Brief warten, ich wollte einen nach dem anderen entdecken — so, wie mein Vater es gewünscht hat. Sie und Ihr Vater, Sie sind so gut gewesen, die vielen Jahre. Ich möchte Ihnen von Herzen danken, auch in seinem Namen. Jetzt aber würde ich gerne sein Grab besuchen. Wo ist es eigentlich?«
»Es ist — kein Grab wie die üblichen Gräber, wissen Sie.«
»Ja, ich weiß.«
Und so begab sich Vincent Sharp im März 1932 nach Saint-Quentin. Er kniete vor einem nahezu anonymen Grabstein nieder. Darauf stand nur ein Datum: 19.10.1913. Kein Name, nur die Nummer eines Gefangenen. Vincent Sharp hat um Erlaubnis gebeten, die Leiche seines Vaters überführen zu dürfen, doch die Verwaltung hat es abgelehnt. Jetzt kommt er zweimal im Jahr nach Saint-Quentin. Einmal am 19. Oktober, dem Tag, an dem 1913 der Mörder Thomas Sharp gehängt wurde, und ein zweites Mal am 21. März, dem »Todestag«, den sein Vater gewählt hatte, um seinem Sohn
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