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Der Mann der nicht zu hängen war

Der Mann der nicht zu hängen war

Titel: Der Mann der nicht zu hängen war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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soll es die besten Hot-dogs und das beste Bier der ganzen Gegend geben. Wenigstens verspricht das eine riesige Reklametafel. Mit quietschenden Bremsen hält der Fahrer vor eben dieser Bar und schaut vorsichtig hinein, obwohl er ganz genau weiß, daß es hier seit langem schon keine Hot-dogs oder Bier mehr gibt. Alles außer Betrieb — leere Kulissen aus einer Zeit, als Medway noch ein beliebter Treffpunkt für Viehhändler war. Trotzdem, sicher ist sicher, und man kann ja nie wissen. Manchmal spielen Kinder in den verlassenen Holzbaracken. Manchmal suchen auch obdachlose Durchreisende Asyl für eine Nacht in diesem kostenlosen, windgeschützten Logis. Doch heute abend scheint niemand da zu sein. Gott sei Dank!
    Der Fahrer beruhigt sich ein wenig. Dann macht er die Wagentür auf, bleibt aber zunächst sitzen, als wolle er nur ein wenig frische Luft hereinlassen. Er atmet mehrmals tief ein, aber das hilft auch nichts. Er schwitzt fürchterlich, sein Hemd klebt und brennt auf der Haut. Seine Beine zittern, und er kann nichts dagegen tun. Er steht noch völlig unter Schock!
    Nach zwei, drei Minuten dreht er sich endlich um, schaut zurück auf die Straße, sieht seine lange Bremsspur: hundert Meter, vielleicht hundertfünfzig. Und am Ende der Spur liegt etwas Helles, etwas Kleines. Es bewegt sich nicht. Nur der aufgewirbelte Staub schwebt immer noch über der Stelle, wo es passierte.
    Der Mann sitzt also da, absolut unfähig, irgend etwas zu unternehmen. Er kann noch nicht einmal richtig denken. Schreckliche Bilder ziehen vor seinen Augen vorbei wie in einem Alptraum. Aber es ist leider kein Traum! Er muß unbedingt etwas tun! Aber was? Zumindest einmal aussteigen und nachschauen, was dem kleinen, hellen, bewegungslosen Etwas geschehen ist. Und dann? Was ist, wenn es tot ist? Wegrennen? Fliehen wie ein Mörder? Ja, aber was ist, wenn es noch lebt?
    Wie ein Automat dreht er plötzlich den Zündschlüssel, legt den Rückwärtsgang ein und steigt so aufs Gas, daß der Wagen wie eine aufgeschreckte Heuschrecke losspringt. Rückwärts fährt er seiner Spur nach bis zu der Stelle, wo es geschah. Als er dort ankommt, wagt er kaum hinzuschauen.
    Das kleine Mädchen trägt ein rosa Kleid, ziemlich verschmutzt, und Sandalen. Es liegt ruhig, als schliefe es, die Beine am Körper angewinkelt, die Arme über dem Kopf, und in der rechten Hand hält es noch den Griff eines Korbes. Der Korb liegt ein paar Meter weiter, daneben eine Orange und ein Stück Brot. Und mitten auf der Straße ein Strohhut, plattgedrückt, genau dort, wo der Unfall geschah.
    Ein einsamer Mann auf einer menschenleeren Straße stellt fest, daß er vor wenigen Augenblicken ein Kind überfahren hat. Und dieser Mann fragt sich, verrückt vor Angst, was er nun tun soll. Gewiß, da gibt es normalerweise keine Frage. Das heißt, es sollte keine geben... Er müßte jetzt sofort aussteigen, zu dem Kind gehen, nachschauen, wie schwer es verletzt ist, und auf alle Fälle so schnell wie nur möglich Hilfe holen. Und sollte das Kind tot sein, so müßte er genauso schnell in die Stadt zurückfahren, und zwar direkt zur Polizei.
    Aber dieser Mann tut nichts. Er hat nur noch Angst, Angst auszusteigen, Angst nachzusehen, Angst, das Kind anzufassen, Angst vor einer Tatsache zu stehen, die er nicht wahrhaben will. Irgend etwas in seinem verwirrten Kopf — vielleicht eine Art Instinkt — versucht ihn davon zu überzeugen, daß nichts, absolut nichts geschehen ist. Es ist einfach nicht möglich. Er kann dieses Kind nicht überfahren haben, dieses Mädchen, das vor ein paar Minuten die Straße überquerte und dabei vor seinen Wagen rannte. Er sieht noch ganz deutlich, wie der kleine Körper durch die Luft flog — aber das kann einfach nicht wahr sein.
    Doch das Kind liegt da, hier, auf der Straße, ruhig, schrecklich ruhig. Endlich kommt der Mann zu sich! Vorsichtig steigt er aus seinem Wagen, geht langsam zu dem Kind, beugt sich über das Mädchen und flüstert: »Kleines, sag doch was, Kleines!«
    Seine eigene Stimme erschreckt ihn so sehr, daß er wieder die Nerven verliert. Kopflos stolpert er zu seinem Wagen. Wie ein Verrückter, der von einem Ungeheuer verfolgt wird, braust er los, als ginge es um sein Leben. Er schaut nicht einmal mehr in den Rückspiegel.
    Es ist 20 Uhr, als er in Medway vor einem Drugstore hält. Die Sonne ist gerade unter gegangen. Und für den Mann beginnt eine Nacht, an die er sich schon am nächsten Morgen nicht mehr erinnern wird: Er betrinkt sich

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