Der Mann der nicht zu hängen war
die Polizeidurchsage mit der genauen Beschreibung des Kindes: Größe, Augenfarbe. Kleidung usw.
Nach der dritten Durchsage, also etwa drei Stunden später, kommt ein neuer Anruf vom Sheriff, der wiederum um verstärkte Hilfe bittet. Ein Polizeiwagen hat in der Zwischenzeit das Kind gefunden. Es wurde überfahren, und vom Täter findet sich keine Spur. Fahrerflucht. Gott sei Dank ist Cory Matterson nicht tot. Sie liegt bewußtlos und mit inneren Verletzungen im Krankenhaus. Der Fahrer muß gefaßt werden, und der Sheriff hofft, daß ihn die Durchsage im Funk vielleicht veranlassen könnte, sich selbst zu stellen. Mehrmals pro Stunde soll Ronald an sein Gewissen appellieren.
Ronald Green, der mit der ersten Durchsage völlig einverstanden war, ist jetzt verunsichert. Das mit dem überfahrenen Kind im Koma, mit Fahrerflucht und so, das stört die Atmosphäre der Sendung, die wie gesagt nur Fröhlichkeit und Optimismus zu verbreiten hat. Nein, er ist nicht bereit, so etwas in sein Programm einzubauen.
Doch der Sheriff besteht darauf. Na gut. Aber dann soll er selbst den Text der Durchsage schreiben. Kurz darauf, zwischen zwei Musikstücken, liest Ronald also:
»Ich wende mich an den Fahrer, der die kleine Cory Matterson gestern abend überfahren hat. Wir wissen ganz genau, daß er nur die Nerven verloren hat. Wir wissen, er ist nur aus Angst weitergefahren. Doch Cory ist nicht tot. Sie ist schwer verletzt, aber sie lebt. Die Eltern von Cory verfügen aber nicht über genügend finanzielle Mittel, um für die Krankenhauskosten aufzukommen. Wenn der Fahrer sich stellt, wird die Versicherung diese Kosten übernehmen. Es ist also dringend notwendig, daß der Fahrer sich stellt. Und so werden wir auch alle in Medway wissen, daß keiner unserer Bürger ein Feigling ist.«
Und unermüdlich, mehrmals pro Stunde, liest Ronald die Durchsage. Er hat keine andere Wahl, auch wenn es nicht in sein Konzept paßt. Selbst der Boß der Station hat Ronald angerufen und ihn gebeten:
»Also Junge, wenn schon, dann mach was draus! Mit Musik und so, schön dramatisch, über Zivilcourage und Ehre, na ja, du weißt schon, wie man so was bringt. Wenn wir diesen Feigling finden, dann ist es doch die beste Reklame für unseren Sender! O. K.?« O.k. Den ganzen Nachmittag lang, zwischen Popmusik und Country-Songs, hält Ronald Green seine Predigt über Ehre und Zivilcourage, über Mut und Feigheit. Und der Tontechniker blendet dabei jedesmal gefühlvoll eine schöne, ergreifende Musik ein, die dazu beitragen soll, selbst die härtesten Herzen mürbe zu machen. Ein richtiges, kleines, spannendes Hörspiel.
Und dann plötzlich um 18 Uhr 56: Statt die Werbespots durchzusagen, bittet Ronald um Aufmerksamkeit:
»Meine Damen und Herren, Bürger von Medway, guten Abend. Unser Programm geht zu Ende. Nicht nur für heute, sondern auch für morgen und für die nächsten Tage. Aber machen Sie sich keine Sorgen, >Radio Medway< meldet sich bestimmt bald wieder. Mit einer anderen Stimme. Ich verabschiede mich von Ihnen.«
Dann verläßt Ronald das Studio und fährt direkt zum Sheriff: »Ich bin es, der das Mädchen gestern überfahren hat.«
Der Sheriff zeigt keine Reaktion. Er antwortet nur: »Cory geht es jetzt schon besser, Ronald. Sie wird durchkommen.«
Und beide gehen zu dem Wagen von Ronald Green, stellen fest, daß ein Stück Stoßstange, das am Unfallort gefunden wurde, an dem Wagen von Ronald fehlt. Er hatte es nicht bemerkt. Denn er hatte in seiner Panik nicht einmal nach Beschädigungen an seinem eigenen Wagen gesehen.
Wenn man den ganzen Tag pausenlos die Vorzüge neuer Waschmittel lobt, dieselben Worte, dieselben Phrasen, dieselben Nichtigkeiten voller Dynamik herunterleiert, als ginge es um die wichtigsten Dinge des Lebens... vergißt man darüber vielleicht die wahren Werte des Lebens. Aber wenigstens hat Ronald Green im Laufe jenes Tages, an dem er immer wieder an den »Feigling« appellieren mußte, begriffen, daß er selbst jener Feigling war.
Der Stau
A uf den vier Spuren der Autobahn in Richtung Los Angeles brausen Hunderte von Autos vorüber, als gälte es, ein Rennen zu gewinnen. Auf den vier Spuren in Gegenrichtung das gleiche Spiel, als ginge es um den nationalen Grand Prix des Jahres. Weder die Geschwindigkeitsbegrenzung noch der strömende Regen stören die Fahrer bei ihrer wahnsinnigen Verfolgungsfahrt. Jeder starrt nur auf die weißen Linien und bleibt stur in seiner Spur —wie es sich halt gehört für
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