Der Mann der nicht zu hängen war
wie noch nie. Niemand achtet besonders darauf. Viele betrinken sich in Medway, wenn es Nacht wird.
Wie in den meisten kleineren amerikanischen Städten gibt es in Medway einen Privatsender, eine rein lokale Radiostation, völlig anspruchslos, was kulturelle Qualitäten angeht. Dem »Programmdirektor« — Disc-Jockey, Nachrichtensprecher und Wetterfrosch in einer Person — geht es ausschließlich darum, die Vorzüge einer neuen Schallplatte zu preisen, das neue Waschpulver mit den biologischen Enzymen zu loben oder irgendeine Icecream mit dem schicken Geschmack den Hörern zu empfehlen. Ronald Green, der einzige Moderator der Station, muß ständig den Eindruck erwecken, den American Way of Life zu verkörpern, für die Erfolgreichen da zu sein — für die, die wie aufgezogen 26 Stunden am Tag leben und spielend alle Probleme des Lebens meistern. Die ganze Welt ist jung, schön, reich und gesund! Also »packen wir’s an — die Welt steht uns offen!«. So etwa ist die Devise der Station. Und so schreit Ronald die Titel der Songs, die Stadtnachrichten und vor allem die Werbespots mit dem gleichen gespielten Optimismus, dem gleichen enthusiastischen Tonfall ins Mikrophon.
Sein Reich liegt im Parterre eines alten Hauses, wo er in engstem Kontakt mit seinem einzigen Toningenieur lebt. Und der ist genauso nervös und überspannt wie er selbst. Lediglich die Sekretärin, die für die Hörerpost und die Telefonzentrale zuständig ist, bringt ein wenig Ruhe in dieses turbulente »Funkhaus«. Ein Tisch, ein Mischpult, ein Tonbandgerät und zwei Plattenspieler, das ist alles. Und selbstverständlich Ronald vor seinem Mikrophon. Damit ist »Radio Medway« von 9 bis neunzehn Uhr ununterbrochen auf Sendung.
Und wenn Ronald Green mal für eine kurze Stunde weg muß, aus welchen Gründen auch immer, so ist das gar kein Problem. Der Tontechniker spielt halt so lange Musik, bis Ronald wieder da ist — auch wenn es mal zwei Stunden dauert, weil Ronald wieder einmal ein wichtiges Rendezvous hat. Oder auch nur zehn Minuten, wenn der »Chef« eben nur schnell um die Ecke ein paar Sandwiches für das Team holt. Alles läuft seit Jahren wie geschmiert. Die Bürger von Medway sind stolz auf ihren Privatsender und die Auftraggeber nicht weniger. Denn wenn Ronald am Morgen von einer bestimmten After-Shave Lotion begeistert ist, dann ist die entsprechende Ware in den Läden am Abend schon ausverkauft.
Ronald ist 26 Jahre alt, mit einem eher bescheidenen IQ ausgestattet, aber so dynamisch, daß man sich keinen besseren Mann für die Leitung und Durchführung des Programms vorstellen könnte. Er ist auf alle Fälle mit sich und der Welt zufrieden, und in dem winzigen Sprecherraum kleben die Fotos der schönsten Mädchen der ganzen Gegend. Ronald ist wirklich wer in Medway! Nun, an jenem Morgen scheint er mit dem linken Fuß aufgestanden zu sein. Auch wenn er es sich niemals anmerken läßt, so gibt es doch Tage, an denen ihm seine eigene Dynamik auf die Nerven geht. Mal ist eine »dumme Gans« schuld daran, mal möchte er einfach wenigstens einen Tag lang normal reden dürfen.
Schließlich ist er kein Automat. Aber dafür wird er nun einmal bezahlt, gut bezahlt sogar, also: »Packen wir’s an, die Welt steht uns offen!«
Der Vormittag verläuft ohne Zwischenfälle. Ronald Green nimmt sich zusammen, und bald ist er wieder ganz der Alte: »Freunde, seid ihr alle da? O. k.! Und was habt ihr heute alles vor? O. k.! Auch das muß sein! Aber danach — nicht vergessen... O. k.? Heute gibt es die saftigsten und billigsten Steaks ganz Amerikas bei meinem Freund Jack! O.k.? Und die Stimmung erst! Los! Musik... ab!«
Kurz vor Mittag kommt ein wichtiger Anruf. Die Sekretärin gibt ihn Ronald in den Sprecherraum durch. Es ist der Sheriff von Medway. Er braucht Hilfe. Er bittet Ronald, stündlich einen kurzen Text durchzugeben. Es handelt sich darum, die Bürger der Stadt per Funk zu mobilisieren, um nach einem zwölfjährigen Mädchen zu suchen, das gestern abend nicht nach Hause kam. Cory Matterson.
Ronald ist selbstverständlich einverstanden. Oft genug gibt er solche Texte durch. Nur meistens handelt es sich dabei um einen gestohlenen Wagen, allenfalls um eine verlorengegangene Katze. So etwas macht er nicht gerade gern, denn es stört den optimistischen Programmablauf. Aber wenn es um ein verschwundenes kleines Mädchen geht, ist es natürlich etwas anderes. Es ist wichtig, und man kann auch was draus machen. Also liest Ronald gewissenhaft
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