Der Mann, der nichts vergessen konnte
einen stillen Kampf mit sich selbst.
»Geben Sie sich einen Ruck«, sagte Tim. »Sie könnten meinen Bewacher draußen ablenken, und ich schleiche mich hinaus. Nach dem Hofrundgang schlüpfe ich wieder zurück.
Niemand merkt was. Niemand beklagt sich.«
»Mir ist nicht wohl bei der Sache. Sie könnten fliehen.«
»Aus dem Innenhof? Ich bin doch nicht Spider-Man. Jetzt kommen Sie schon, Doktor! Ich leide unter Platzangst. Immer nur eingesperrt zu sein macht mich auf die Dauer wahnsinnig.
Wollen Sie das?«
Lessing blies seine Backen auf wie ein Trompeter und ließ die Luft abrupt wieder entweichen. »Na meinetwegen«, raunte er. »Es wird den Librarian interessieren, was in seiner Bibliothek vorgeht. Heute Nachmittag treffe ich ihn ohnehin, und dann spreche ich mit ihm.«
Ainsworth Lessing war noch nicht länger als zehn Minuten gegangen, als Knight erneut die Haupttür öffnete, um Jamila hereinzulassen. Sie wünschte ihm einen guten Morgen. Tim saß am Schreibtisch über ein botanisches Buch gebeugt. In Gedanken war er noch bei seinem eben eingefädelten Notfallplan, doch äußerlich gab er sich arbeitswütig. Sein Gruß blieb zweisilbig Jamila wusste mit seinen Launen mittlerweile recht gut umzugehen, und so fläzte sie sich in den Ohrensessel, der rechts von Tim zwischen den beiden Eckfenstern stand.
Seit einigen Tagen las sie ein Werk mit dem bezeichnenden Titel Der schwarze Freitag.
Eine Weile lang saugte jeder Worte in sich hinein, wobei er die ungefähr dreißigfache Geschwindigkeit an den Tag legte.
Während Jamila etwa zum fünfzehnten Mal umblätterte und er gerade sein zweites Buch zur Hand nahm, sagte er, die Augen fest auf den Einband geheftet, so beiläufig wie möglich:
»Du bist Mitglied der Loge 322, nicht wahr?« Er hörte ein heftiges Rascheln neben sich. Betont unaufgeregt wandte er sich ihr zu.
Sie hatte ihre Lektüre in den Schoß fallen lassen und war sichtlich konsterniert. Doch nur für einen Moment, dann fasste sie sich wieder und antwortete: »Ehemaliges Mitglied. Man kann nur neun Monate lang dazugehören.«
»Ja, ja«, gab er sich gelangweilt. »Skull and Bones dient nur der Aufnahme in einen lebenslangen Bund. Gibt es in eurem Verein ein höheres Ziel, dem sich alle verschreiben müssen?«
»Darüber darf ich nicht reden.«
»Ist dieses Ziel der Schutz der Unabhängigkeitserklärung?«, wagte Tim einen Schuss ins Blaue.
Sie antwortete nicht. Nur ihre grünen Augen funkelten.
Was sah er da? Zorn? Verwirrung? Überraschung? Er wünschte sich, seine Antennen für Jamilas Gefühle wären sensibler. Jetzt, nachdem er sich die Rolle des Wissenden ausgesucht hatte, musste er sie auch zu Ende spielen. Er deutete zur Decke, wo sich über Jamilas Kopf ein weiteres Spruchband befand, und las: »Efficiunt darum studio – ›Sie klären es durchs Studium‹. Das habe ich beherzigt, Jamila.
Schon in Cambridge. Das Material über deinen Orden kann einen überwältigen.«
Sie gab ein abfälliges Schnauben von sich. »Ich habe mir gleich gedacht, dass Lamm in Mintsoße nicht dein Geschmack ist. Willst du damit andeuten, du hast deine kostbare Zeit mit dem Lesen der zahllosen Verschwörungsgeschichten verplempert, die über die Loge in Umlauf sind?«
»Du hast recht. Das meiste, was über Skull and Bones geschrieben wurde, ist des Lesens nicht wert. Aber ich habe Übung darin, den Weizen von der Spreu zu trennen.«
»Ach? Dann lerne ich ja vielleicht heute noch was Neues.«
»Wer weiß? Eins ist auffällig, wenn man das konspirative Geplappere ausblendet: Skull and Bones hat keine Geschichte.«
Sie blickte ihn unbehaglich an.
Er nickte. »Nimm die Freimaurer oder andere Geheimgesellschaften – sie legen alle großen Wert auf die Erforschung und Bewahrung ihrer Ursprünge. Aber bei der Bruderschaft des Todes klafft da nur ein großes Loch. Ich habe mich gefragt, ob diese Lücke in eurer Geschichte eigentlich eine Vertuschung sein könnte.«
»Und was sollte der Orden deiner Meinung nach vertuscht haben?«
Tim überlegte, wie er am besten beginnen sollte. »Euer Vereinshaus…«, begann er. »Entschuldige, euer Tempel auf dem Campus von Yale, der wird doch auch Tomb genannt – die ›Gruft‹ –, nicht wahr?«
»Er hat viele Namen. Ich vermute mal, die meisten kennst du auswendig.«
Er nickte. »Boodle, T… Aber ich wollte eigentlich nur sagen, dass in die Gruft im Jahr 1876 eine Gruppe mit dem vieldeutigen Namen The Order of File and Claw eingebrochen ist und über ihren
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