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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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alles andere als ermutigend. »Bitte mich nicht darum, Tim. Lass mich nicht im Stich.«
    Einige Stunden später hatte er sich dann, von Schlaflosigkeit geplagt, dazu entschieden, dem goldenen Käfig zu entfliehen.
    Anschließend begann das Grübeln über die richtige Methode.
    Er hatte in der Vergangenheit ein paar Ausbrecherfilme gesehen, zweifelte aber an der Durchführbarkeit der darin gezeigten Verfahren. Einen vorgetäuschten Herzanfall würde man ihm vermutlich nicht abnehmen oder ihm einfach den Notarzt schicken, der ihn dann mit einem Defibrillator röstete.
    Ihm fehlte auch der Mut, sich ernsthafte Verletzungen zuzufügen, um so die sprichwörtliche Verlegung auf die Krankenstation zu erzwingen. Eine reelle Chance hatte er wohl nur, wenn er das Blatt I der Beale-Chiffre entschlüsselte.
    Damit wäre seine Anwesenheit in der Bibliothek nicht länger erforderlich, und er konnte die Verlegung wohin auch immer zur Flucht nutzen. Nur, wie sollte er die Nuss knacken, die Thomas Jefferson Beale der Nachwelt hinterlassen hatte?
    Vielleicht habe ich das Problem falsch angepackt, dachte er.
    Womöglich muss ich noch mal ganz von vorn beginnen.
    Über der Grübelei schlief er schließlich doch ein und wurde abermals von einem beunruhigenden Traum heimgesucht.
    Darin regneten Ziffern auf ihn nieder, eine große, fleischige Acht, eine behaarte Drei, eine sich windende, glitschige Zwei und so ging es eine ganze Weile weiter, bis ihm die wuselnden Ziffern bis zum Kinn reichten. Ihm war klar, dass er sich in Gefahr befand. Er rechnete sich wenig Chancen auf eine glückliche Lösung aus. Entweder würde ihn der baldige Erstickungstod ereilen, oder die Ziffern verschworen sich gegen ihn und nagten ihn wie Piranhas bis auf das Skelett ab.
    Er sah schon seinen Schädel inmitten von Ziffern liegen, aber da fingen diese plötzlich an, sich gegenseitig aufzufressen.
    Zum Schluss lagen nur noch drei vor seinen Füßen und zappelten wie an Land geworfene Fische.
    322, hatte Tim die zuckende Zahl gelesen und war schweißgebadet aufgewacht. Mit weit aufgerissenen Augen hatte er in die Finsternis gestarrt und geflüstert: »Was hat das zu bedeuten?«

    Am Freitagmorgen saß er früher als gewöhnlich am Schreibtisch. Das Thomas Jefferson Building öffnete erst um zehn Uhr seine Pforten, aber er wusste, dass der Leiter der Abteilung für seltene Bücher 8c spezielle Sammlungen seinen Dienst regelmäßig zwei Stunden früher begann. Um Punkt acht Uhr wählte er über den internen Hausanschluss dessen Nummer.
    Während er dem Rufton lauschte, rief er sich in Erinnerung, was er Anfang der Woche in einem zweihundert Jahre alten Buch über Verhandlungstaktik memoriert hatte: Stellen Sie eine unannehmbare Bedingung, die von Ihrem Opponenten abgelehnt werden muss. Sodann lassen Sie eine zweite, weniger unverschämte, jedoch immer noch weitreichende Forderung folgen. Sie werden staunen, zu welch enormen Zugeständnissen Sie die Gegenseite nach ihrem vermeintlichen Sieg bewegen können.

    »Lessing?«, meldete sich eine abgehetzt klingende Stimme.
    Tim stand vom Sessel auf und lächelte, um seiner Stimme mehr Farbe zu verleihen. Weil es dem Bibliothekar zudem ein Herzensanliegen war, die Sprache seiner Vorfahren zu pflegen, sagte er auf Deutsch: »Recht schönen guten Morgen, Doktor.
    Hier ist das Phantom der Nationalbibliothek. Haben Sie gut geschlafen?«
    »Witzbold. Was wollen Sie, Dr. Labin?« Immerhin hatte auch Lessing deutsch gesprochen.
    »Ich würde gerne einen Blick aufs Original der Unabhängigkeitserklärung werfen.«
    »Sind Sie noch bei Trost? Das ist ein Nationalheiligtum. Das grapscht niemand an.«
    »Von Grapschen war nicht die Rede…«

    »Es gibt Millionen von Kopien. In Ihrem Computer finden Sie alles.«
    »Mir geht es um kleine Details, die auf einer fotografischen Wiedergabe möglicherweise nicht erkennbar sind. Jemand sagte mir, das Dokument werde hier in einer Vitrine aufbewahrt…«
    »Das war keine gewöhnliche Vitrine«, unterbrach Lessing den Anrufer erbost. »Sie reden von dem ›Schrein‹, gewissermaßen die Bundeslade der Nation, ein kostbares Behältnis aus Marmor, vergoldeter Bronze und einem doppelverglasten Deckel. Mir war es noch vergönnt, ihn zu sehen, oben, in der langen, offenen Galerie auf der Westseite des zweiten Obergeschosses. Aber da hatte man ihn schon geplündert…«
    »Man hat die Unabhängigkeitserklärung gestohlen?«, ging Tim dazwischen. Er hoffte, der Bibliothekar merkte nicht, dass man

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