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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Nähe, dann verlor Ersteres jedes Gewicht. Wie so oft kannten seine Gefühle keine Grenzen, und so war er zu Beginn seiner Arbeit in Washington davon überzeugt, an Jamilas Seite ein ganzes Jahr im goldenen Käfig ausharren zu können und sich trotzdem befreit zu fühlen.
    Denn so lange sie bei ihm war, vergaß er die Schatten der Vergangenheit.
    Doch in der Einsamkeit der Nacht, vor allem in seinen Albträumen, kehrten sie zurück. Dann war alles wieder da: vor allem die Fragen, ob er den Tod seiner Eltern verschuldet hatte, und was genau am späten Abend des 9. November 1989 geschehen war.
    Die Arbeitsteilung zwischen Tim und Jamila erfolgte nach bewährtem Schema. Sie schaffte die Bücher und sonstigen Publikationen heran, und er memorierte.
    Unterdessen nahmen die Hiobsbotschaften aus der Welt draußen kein Ende. Der Dollar befand sich im freien Fall, die Aktienkurse ebenso. Auf Rekordniveau war auch die Zahl der Firmenpleiten und Privatinsolvenzen. Einige Kommentatoren taten überrascht, andere behaupteten, dergleichen habe, Beale hin oder her, irgendwann kommen müssen.
    Jahrelang hätten die Medien mit der Hoffnung auf den schnellen Gewinn Spielernaturen herangezüchtet, sagten diese Kritiker. Dadurch seien die Banner der Kultur, Moral und der humanistischen Werte, die man lange mit so viel Stolz vor sich hergetragen hatte, in den Staub getreten worden. Das Mantra der neuen Zeit war kurz und griffig: Geld, Geld und nochmals Geld. Fernsehen und Internet wetteiferten darin, sich beim Verbreiten der magischen Glücksformel zu übertönen, wuschen vierundzwanzig Stunden am Tag Gehirne mit Lotterien, Reportagen über Aktienkönige, Quizshows, in denen man Millionär werden konnte. Wer nichts hat, ist nichts, setzte sich in den Köpfen der Massen fest, und so hatte mancher alles riskiert, um in dieser Welt endlich wer zu sein. Und war abgestürzt. Die Meldungen von den Selbstmorden jener, die ihr ganzes Vermögen verspekuliert hatten und nun vor dem Nichts standen, mehrten sich von Tag zu Tag.
    Tim traf nur die Gischt all dieser Nachrichten, die wie Wogen eines aufgewühlten Meeres in immer kürzerem Rhythmus gegen die Mauern des Thomas Jefferson Building brandeten.
    Ab und zu konnte er Jamila oder seinen Bewachern eine Neuigkeit entlocken. Manchmal surfte er auch nachts, wenn er im Büro des Bibliothekars alleine war, durchs Internet.
    Obwohl in der Berichterstattung nach wie vor die Spekulationen über die Beale-Papiere eine zentrale Rolle spielten, schien die Krise längst eine Eigendynamik entwickelt zu haben, die sich jeder Kontrolle entzog. Tim zweifelte zunehmend daran, eine Ausweitung der Katastrophe irgendwie abwenden zu können. Trotzdem las er, wenn der nächste Morgen kam, weiter.
    Und blickte in der folgenden Nacht erneut dem Nichts ins Angesicht, das – so der Erinnerungsschnipsel aus der Schachnovelle – wie kein »Ding auf Erden einen solchen Druck auf die menschliche Seele erzeugt«.
    Nach einer knappen Woche fruchtlosen Memorierens und nächtlichen Sinnierens erlitt er einen Anfall von mentaler Gleichgewichtsstörung. Obwohl er mit den Brosamen von Jamilas Liebe schon glücklich und zufrieden gewesen wäre, hatte sie ihn sechs Tage lang nur mit ein paar Körnchen Kollegialität abgespeist. Auf der anderen Seite der Waagschale war das Gewicht der Zweifel durch das andauernde Grübeln über seine Lage immer größer geworden. Was würde die Eule tun, wenn er den Beale-Schatz nicht fand? Müsste er sich dann den Vorwurf der Täuschung gefallen lassen? Sollten dagegen die Kisten des Glücksritters tatsächlich ausgegraben werden und unwiderlegbare Beweise für eine Fälschung der Unabhängigkeitserklärung oder sogar ihren Urtext enthalten, was dann? Wäre Tim Labin damit ein unakzeptabler Mitwisser? Die Gefangenen von Guantánamo bewiesen ja, wie die Vereinigten Staaten sich um die Einhaltung ihrer Rechtsprinzipien herumzumogeln wussten. Vielleicht würden sie den Schachweltmeister in ein stinkendes Gefängnis werfen, wo es nicht mal ein Mühlespiel gab, irgendwo am Ende der Welt, um ihn dort langsam verrotten zu lassen.
    Am Donnerstagabend hatte er vor Jamila einen Versuchsballon aufsteigen lassen. Sie wirkte auf ihn seit Tagen oft abwesend, als bedrücke sie irgendetwas. »Nachts komme ich mir in diesem monströsen Bau vor wie das Phantom der Oper. Gilt dein Versprechen immer noch? Kann ich jederzeit gehen, wohin ich will?«
    Ihr bestürzter Blick hatte ihn erschauern lassen, und ihre Antwort war

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