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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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noch ein leises Echo der Vergangenheit.
    Erst mit dem Blatt III der Beale-Chiffre ist mir klar geworden, was der eigentliche Anlass der Gründung von Skull and Bones war.«
    »Und wie habt ihr die Chiffre geknackt?«
    Sie zuckte die Achseln. »Wie du ja schon weißt, hatte Owl in den Rosenholz-Dateien Namen entdeckt, die nicht zu dem Agentennetz der DDR passten, weil sie für Personen aus dem 19. Jahrhundert standen.«
    Tim nickte. »Amos A. Bethel und mein Ahne, Jacob Rosenholz.«
    »Es gibt noch einen dritten Namen: Robert Lemon senior. Du erinnerst dich?«
    »Natürlich. Ich bin der Mann… Na, du weißt schon. Wenn dein Boss in den Geheimakten den Entdecker der miltonschen Streitschrift gefunden hat, wird mir einiges klar. Hat er dich benutzt, um in euer Ordenshaus zu kommen und den Schlüssel zum ersten Blatt der Chiffre zu finden?«
    »Meines Wissens hat er die Gruft nie betreten. Andererseits…« Ihre Stimme blendete sich aus, der Blick wurde glasig.
    Tim konnte die rotierenden Rädchen in ihrem Kopf förmlich hören. »Andererseits?«, hakte er nach.
    Sie blinzelte und sah ihm wieder fest in die Augen. »Meine Wahl in den Kreis der Fünfzehn – erst neulich hat mir Owl gestanden, seine Finger im Spiel gehabt zu haben.«
    »Hört, hört!«, sagte Tim mit einem Gefühl der Genugtuung.
    »Dein Boss scheint ja richtig besessen zu sein von den Beale-Chiffren, wenn er solche Ränke schmiedet, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.«
    Sie fuhr aus dem Sessel hoch und blitzte ihn zornig an. »Mir gefällt es nicht, wie du über Owl redest. Er hat viel für mich getan, für mich ganz allein. Selbst wenn du recht hättest, wäre es nutzlos gewesen. Nicht er war in der Gruft, aber ich habe mich gründlich umgesehen. Es gibt dort keinen einzigen Hinweis auf Beale, nicht das Geringste.«
    Unwillkürlich stand auch Tim auf. Die beiden Streithähne trennten kaum zwei Schritte. »Wirklich nicht? Ich habe gelesen, euer Tempel soll ein richtiges Gebeinhaus sein.
    Angeblich bewahrt ihr darin sogar den Schädel des Apachenhäuptlings Geronimo und das Skelett der Madame Pompadour auf. Irgendwie passt das für mich nicht zusammen: Du willst in eurem Mausoleum nicht den geringsten Hinweis auf Beale gesehen haben, und trotzdem sagtest du in Cambridge, du könntest seine Worte nicht vergessen: ›Immer noch schreien in meinen Träumen die Schädel und Knochen der Toten zu mir.‹«
    Jamila machte einen Schritt auf ihn zu und reckte ihm das Kinn entgegen. »Deine besserwisserische Art hängt mir langsam zum Hals raus, Tim. Nichts kann man sagen, ohne dass du es einem nachher wieder aufs Brot schmierst.«
    Er grinste, womit er vor ihr nur seine Unsicherheit zu verbergen suchte. Aus demselben Grund gab er auch wieder dem altbekannten Reflex nach. »Ich bin eben der Mann…«
    »Halt die Klappe!«, schnitt sie ihm harsch das Wort ab. Ihre Unterlippe bebte.
    In seiner Hilflosigkeit handelte er, gemessen an seinen sonstigen Gewohnheiten, völlig irrational: Er schloss die Lücke zu ihr und riss ihr den Zettel aus der Hand. Damit vor ihrem Gesicht herumfuchtelnd, schimpfte er: »Wach endlich auf, Jamila! Du hast das hier doch gesehen. Es heißt, die Logenzahl 322 befinde sich überall in der Gruft und außerdem herrsche darin ein Durcheinander wie in einer Rumpelkammer.
    Vielleicht ist der Schlüssel zur Beale-Chiffre irgendein unscheinbares Symbol oder ein Schriftzug, der sich nur dem Wissenden erschließt. Wie kannst du dir so sicher sein…?«

    Weiter kam Tim in seiner Beweisführung nicht, weil Jamila ihm plötzlich um den Hals gefallen war. Sie drückte sich an ihn, schmiegte ihre Wange an die seine und begann laut zu schluchzen.
    »Erst ist Karim gestorben, dann Azam, und jetzt dieser völlig an den Haaren herbeigezogene Verdacht gegen den Mann, dem ich so unendlich viel verdanke. Sag so etwas Furchtbares bitte nie mehr, Tim! Ich weiß auch so schon nicht mehr, was ich noch denken soll.«
    Ihm ging es genauso. Das hatte aber weniger mit der vertrackten Situation im Fall Beale zu tun, sondern mit Jamilas überraschendem »Angriff«. So zumindest hätte er die Durchdringung seines unsichtbaren Bannkreises bei jedem anderen Menschen aufgefasst, doch das Mädchen, um dessen Gunst er seit einem Monat warb, war längst Teil seiner Seele geworden. Jamila belegte die sonnigsten Plätze im großen Garten seiner Erinnerungen. Jetzt erst wurde er sich dessen bewusst, da er sie fühlen durfte wie noch nie zuvor, da er ihre Verzweiflung, die

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