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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Deckengewölbe. In der Mitte war das Himmelslicht dargestellt, Symbol der Erleuchtung. Darunter stand ein Kartentisch mit einem Kissen, auf dem ein Schädel und eine Sanduhr lag. Tempus fugit, flammte es erneut in Tims Geist auf, die Zeit rinnt wie der Sand dahin, und du hast noch immer keine Ahnung, wo in diesem Kuriositätenkabinett sich der Schlüssel zur Chiffre befindet.
    Weil der Lichtkegel des Strahlers seine Wahrnehmung auf ein enges Fenster begrenzte, konnte er die vielen Einzelheiten des Raumes nur nacheinander erkunden, ebenso, wie auch die Körnchen im Stundenglas über ihm nur einzeln fielen. Jamila beobachtete ihn genau und erklärte alles, was sein Interesse weckte.
    Neben dem Eingang befand sich ein Garderobenschrank.
    Darin hingen allerlei Gegenstände, die für die Initiation neuer Ritter benötigt wurden. Er sah einen schwarzen Mantel, ein Don-Quichotte- und ein Papst-Kostüm. Sein Blick wanderte nach rechts und blieb an einer großen Standuhr hängen.
    Darüber hing die Yale-Flagge, und davor stand ein Stuhl. Tim erinnerte sich: Die Gruppenfotos jedes Ordensjahrgangs wurden vor diesem Zeitmesser gemacht. Tempus fugit. Konnte das der Schlüssel sein? Warum wurde das Wetterleuchten am Horizont seines Bewusstseins immer stärker, wenn er an das geflügelte Wort dachte?
    Er ließ den Lichtkegel weiterwandern zu einem Mantel voller Anstecknadeln – jede Studentenverbindung hatte ihre eigene.
    Unter den Beutestücken war in Marmor die lateinische Inschrift Bari Quippe Bone eingelegt. Die Worte konnten auf vielerlei Weise gedeutet werden. Tim versuchte es mit einem verwunderten: »›Barren sind tatsächlich gut‹? Was soll das bedeuten?«
    »Frag mich was Leichteres«, erscholl Jamilas Antwort aus der Dunkelheit.
    Tim spähte in sich hinein. Glomm da irgendein Licht? Er konnte nichts sehen.
    Also benutzte er weiter seine Taschenlampe, um der Dunkelheit weitere Absonderlichkeiten zu entreißen wie etwa den Spaten und den Stock an der Wand oder auf dem Kaminsims die Wahlurne, eine Pfeife mit dem Ordenslogo, einen silbernen Kelch, eine weitere Bronzestatue von Demosthenes und, wie Yamila erläuterte, die Augengläser des Yale-Präsidenten Eliza Stiles.
    Der Lichtkreis, den Tim mit seiner Lampe zog, begann sich zu schließen, als er die Wand neben dem Eingang inspizierte.

    Dort hingen zwei Schwerter und dazwischen eine Flagge mit der Aufschrift »Pioneer Yale No. 1«. Als er den strahlenden Kegel nach unten wandern ließ, gewahrte er einen weiteren Horroreffekt der Hausherren und erschauerte pflichtgemäß.
    »Ein Skelett?«
    »Das ist unsere Madame. Die einzige Frau, die bis Anfang der 1990er an den Zeremonien im Inneren Tempel teilnehmen durfte.«
    Tim erinnerte sich an seine Recherchen über die Gruft. »Ist das wirklich… Madame Pompadour, die Mätresse König Ludwigs XV. von Frankreich?«
    »Mir ist nichts Gegenteiliges bekannt.«
    »Wow! Ich dachte ja schon bei der Mumie, die könne jetzt nichts mehr toppen, aber das…« Er schüttelte den Kopf und näherte sich der ersten Knochenfrau des Tomb.
    Die Gebeine der ursprünglich erkennbar zierlichen Person ruhten unter Glas in einer hohen Kiste, deren Seiten voller Schubkästen waren. Am Fußende des Sarkophags hing ein glitzernder Rahmen mit einer Tür darin, beides in Gold gefasst.
    Tim konnte weder ein Schlüsselloch noch ein Kombinationsschloss entdecken. Als sein Suchscheinwerfer noch weiter nach unten wanderte, erstarrte er. Zu Füßen der Madame Pompadour lag ein Kindersarg.
    »Das ist jetzt aber geschmacklos.«
    »Bin ganz deiner Meinung. Mir hat die Installation auch nie gefallen.«
    »Was für eine Bewandtnis hat es mit dem Rahmen da?« Tim richtete den Lichtkegel wieder auf das goldene Objekt unterhalb »der Madame«.
    »Du meinst den Schrein? Er ist der wichtigste Gegenstand der Gruft.«
    »Wusste nicht, dass es so etwas gibt. Was ist da drin?«
    »Öffne ihn, dann siehst du es.«

    »Wenn du mir sagst, wie. Die Tür hat weder Griff noch Schloss. Ist wohl wieder so ein Puzzle.«
    »Richtig, du Schlauberger.« Jamila trat an den Sarkophag heran und langte mit der Hand hinter den Schrein. Im Licht seiner Lampe konnte Tim sehen, wie sie die Augen rollte, als suche sie an der Rückseite irgendetwas. Mit einem Mal lächelte sie. »Ah! Da ist ja unser Federchen.«
    Ein kleines Klick! ertönte, und die goldene Tür sprang auf.
    Tim starrte ratlos in den Rahmen.
    »Was hast du erwartet?«, fragte Jamila.
    Er zuckte die Achseln. »Weiß nicht.

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