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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Holzvertäfelungen hätten aus der Villa Bismarcks stammen können. Auf dem Kaminsims lag ein deutscher Stahlhelm. Tims besondere Aufmerksamkeit erweckten einige Bilder und Inschriften. Ein Gemälde stellte den Blick in ein Grabgewölbe dar, in dem Krone und Zepter, eine Weltkugel, eine Narrenkappe und weitere Gegenstände lagen, dahinter vier Schädel. Das Arrangement wurde von einer Inschrift überspannt: 
    Wer war der Thor, wer Weiser, wer Bettler oder Kaiser?

    Und gleich daneben prangte ein weiterer Spruch: 
    Ob arm, ob reich, im Tode gleich.

    Wohlgemerkt, die sinnfälligen Worte standen dort in Deutsch, was Tim nun doch etwas überraschte. »Anscheinend sind die teutonischen Wurzeln des Ordens mehr als eine Legende«, bemerkte er, auf ein englisch beschriftetes Schild deutend, das offenbar an den noblen Spender der Devotionalien erinnerte: 
    »Vom deutschen Kapitel. Überreicht durch den Patriarchen D. C. Gilman.«
    Jamila lächelte säuerlich. »Du würdest erst staunen, wenn du mal bei einem unserer Geselligkeitsabende dabei wärst. Da singen sie sogar das Deutschlandlied.«
    »Die Nationalhymne? Das kann ich mir nicht vorstellen. Die wurde erst 1922 eingeführt.«
    »Das wird dir auch jeder Bonesman sagen, als guter amerikanischer Patriot alle Deutschtümelei weit von sich weisen und erklären, er singe lediglich zur Melodie von Joseph Haydn.«
    »Als ich noch Klavier- oder Geigenvirtuose werden wollte, habe ich gelernt, dass Haydns Komposition 1797 zur Kaiserhymne gekürt wurde. Sehr viel undeutscher ist Gott erhalte Franz den Kaiser wohl auch nicht, oder?«
    »Die Frage sollte eher lauten, ob dieser Raum den Schlüssel zu Beales erster Chiffre enthält.«
    Tim seufzte. »Du hast recht. Das ist zwar alles sehr aufschlussreich, aber in meinem Kopf gehen keine Lichtlein an. Was ist oben…?« Er verstummte, weil Jamila abrupt die Hand hochgerissen hatte, um ihn zum Schweigen zu bringen.
    Sie lauschte in ihre Ohrstöpsel.
    »Verdammt!«, fluchte sie leise. »Eine Streife der Campuspolizei kommt gerade die High Street hinunter, und draußen ist noch die Festbeleuchtung eingeschaltet.« Sie hieb auf den Lichtschalter und stürzte im Schein ihrer Taschenlampe die Treppe hinunter.

    Tim hastete hinterher. Notgedrungen musste er ein zweites Mal die enge Schleuse durchqueren, um ihr auf den Fersen zu bleiben, kam jetzt aber mit den Türen besser zurecht. Als er die Eingangshalle erreichte, herrschte dort schon Finsternis, wie sie in einer echten Gruft nicht intensiver sein konnte.
    Sicherheitshalber schaltete er auch noch die letzte Lichtquelle, den eigenen LED-Strahler, aus.
    »Wie ist die Lage?«, flüsterte er.
    »Der Streifenwagen hat vor der Gruft angehalten.«
    »Was? Sind wir verraten…?«
    »Pst! Das bedeutet noch gar nichts. Es hat schon so viele Übergriffe auf die Gruft gegeben, dass die Sicherheitskräfte lieber einmal zu oft als zu wenig kontrollieren. Und jetzt sei endlich still.«
    Tim wartete. Die Sekunden flossen zäh durchs Stundenglas der Zeit. Er hatte das Gefühl, inmitten der um ihn versammelten Gebeine selbst ein Toter zu sein. Unvermittelt rüttelte es an der Vordertür. Erschrocken fuhr er zusammen.
    Plötzlich spürte er eine Hand, die nach der seinen griff und sie fest umschloss. Sie war nicht eiskalt, kein Zombie suchte da Halt, vielmehr spendete sie ihm Wärme und machte ihm Mut. Dergleichen tat auch die wohlbekannte Stimme, deren heißer Atem sein Ohr erglühen ließ: »Sie können das Puzzle nicht öffnen. Nicht die Polizei.«
    Trotz der angenehmen Nähe Jamilas vermochte er den Schrecken erst abzuschütteln, als das Beobachtungsteam draußen Entwarnung gab. Sie schaltete ihre Taschenlampe ein und erklärte ihm, die Streife sei weitergezogen. Tims Anspannung entlud sich in einem mürrischen Kommentar.
    »Sagtest du nicht, es kann kein Licht nach draußen dringen?«
    »Eigentlich dienen die Vorhänge und schmalen Fenster dazu, so wenig wie möglich herein zulassen. Wenn alle Türen des Main Foyer geschlossen sind, passiert das auch nie. Aber wir waren in dem Aufenthaltszimmer mit dem geschlitzten Fenster. Törichterweise hab ich nicht dran gedacht. Besser wir beschränken uns jetzt auf unsere Handlampen. Du wolltest nach oben, wenn ich mich nicht irre.«
    Er schluckte weitere Nörgeleien hinunter und folgte ihr über die vernehmlich knarrenden Stufen einer schmalen Treppe in den ersten Stock hinauf.
    Das Foyer dort war wesentlich kleiner und verwinkelter als die große Halle

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