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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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unten. Tims Lichtkegel wanderte über mehrere Türen hinweg. Eine weitere Treppe führte zum Dachgeschoss hinauf. An einer Wand sah er die lateinische Inschrift Tempus fugit.
    »›Zeit flieht‹?«, murmelte er. In seinem Geist flackerte ein Licht wie fernes Wetterleuchten, erlosch jedoch gleich wieder.
    Jamila konnte davon natürlich nichts wissen und meinte wohl, die Frage sei an sie gerichtet. »Dieser Ort atmet eine Philosophie, die sich dir offensichtlich nicht erschließt.«
    Er ignorierte das Echo aus den Tiefen seines Erinnerungsuniversums und antwortete gestikulierend: »Im Gegenteil: Die Wände zelebrieren den Tod, als wäre er ein Sieg. Vielleicht hat Thomas Beales Komitee damit die Schuldgefühle, die ihn bis ans Lebensende verfolgt haben, kompensieren wollen. Für mich ist hier allerdings nichts glamourös. Das ist nur ein altes, dunkles Haus mit engen Durchgängen und winzigen Treppen, vollgestopft mit lauter makabrem Gerümpel… Eine Leiche!«
    Die letzten beiden Worte hatte Tim herausgeschrien. Vor Schreck war er herumgewirbelt und mit Jamila zusammengestoßen, weil diese direkt hinter ihm stand. Zu allem Übel hatte er dabei auch noch die Taschenlampe fallen gelassen und klammerte sich jetzt irgendwie und irgendwo an ihr fest. Drei, vier bange Sekunden lang schwankten sie zwischen Stehen und Fallen, bis sie endlich das Gleichgewicht zurückgewannen.
    Verlegen ließ Tim die Hände sinken. »Entschuldige, aber darauf war ich nicht gefasst.«
    Sie hob seine Lampe auf, drückte sie ihm in die Hand und richtete den eigenen Lichtstrahl auf den leblosen, extrem mageren Körper, der bäuchlings auf einem Mantel lag. Mit einem Mal war er von spiegelnden Reflexen umgeben. »Das ist nur eine Mumie.«
    Er kam sich wegen seiner hysterischen Reaktion töricht vor und murrte: »Willst du abstreiten, dass eine Mumie eine Leiche ist? Gehört das etwa auch zu eurer sogenannten ›Philosophie‹?«
    »Natürlich. Wer in das Ordenshaus eintritt, soll auf Schritt und Tritt erfahren, wie kurz und vergänglich das Leben ist. Im Tode gibt es keinen Unterschied zwischen Kaiser oder Bettler. Deshalb muss man die kurze Zeit des Lebens gut nutzen.«
    »Tempus fugit«, schnaubte Tim. Der Sinnspruch klammerte sich offenkundig an seinem Bewusstsein fest wie ein schillernder Käfer, der sich nicht abschütteln lässt. »Ehe mir die Zeit entflieht, raffe ich noch schnell einen Batzen Zaster zusammen und werde Präsident. Tolle Philosophie, wenn das letzte Hemd sowieso keine Taschen hat.«
    »Hältst du es für sinnvoller, seinen Geist mit nutzlosem Wissen vollzustopfen?«
    »Wer sagt denn, dass es nutzlos ist?«
    »Mein Gefühl. Ich merke doch, wie zerrissen du innerlich bist, Tim. Anstatt deine Unzufriedenheit auf mich zu projizieren, solltest du lieber das Übel bei der Wurzel packen. Dein Vorfahr Jacob Rosenholz scheint mit alldem etwas zu tun zu haben. Möglicherweise war er sogar selbst an diesem Ort. Damit ist auch deine Geschichte mit dieser verwoben…«

    »Wie kommst du darauf?«, fiel Tim ihr ins Wort. »Weißt du etwas über meinen Ahnen, das du mir bisher verschwiegen hast?«
    »Du fängst schon wieder an, mir etwas zu unterstellen«, erwiderte sie aufgebracht.
    Tim war sich mit einem Mal sicher, dass Jamila ihn an der kurzen Leine hielt. Sie wich ihm aus. »Hat Owl dir verboten, mich in die Sache einzuweihen?«
    »Das ist jetzt weder der Ort noch der richtige Zeitpunkt, darüber zu reden.«
    Kein Zweifel, sie blockte ihn ab. Ganz von der Hand zu weisen war ihr Argument allerdings nicht. Tim beschloss, das Thema bei besserer Gelegenheit erneut aufs Tapet zu bringen, und lenkte ein. »Ich habe gelesen, der Orden der Akte und Klaue sei bei dem Einbruch 1876 in einen Raum nicht eingedrungen.«
    »Das ist richtig. Die Nummer 322 haben sie verschont.« Sie deutete zu einer Tür an der rückwärtigen Seite der kleinen Halle.
    »Raum 322?«, wiederholte Tim ahnungsvoll. »Könnte es sein, dass sie es nur nicht geschafft haben, dort hineinzukommen, und die Blamage nicht öffentlich zugeben wollten?«
    »Durchaus möglich. Der Innere Tempel ist sozusagen das Allerheiligste von Skull and Bones. Kein anderer Raum ist so gut gesichert.«
    »Kann ich ihn sehen?«
    Jamila zögerte. »Wenn das herauskommt, bin ich geliefert.«
    »Ich denke, das bist du nach unserer unkonventionellen Führung sowieso schon. Wir hätten von Anfang an dort nachsehen sollen.«
    Sie seufzte. »Ich komme mir allmählich vor wie Lara Croft.«
    Er sah

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