Der Mann, der nichts vergessen konnte
sie irritiert an.
»Tomb Raider«, fügte sie erklärend hinzu – »Grabräuber« – und lief, anders als von Tim erwartet, in Richtung Vorderfront. Er eilte ihr hinterher.
»Wo willst du hin?«
»In den Dunklen Raum.«
»Äh…? Hier ist es doch überall finster.«
»Das Zimmer heißt so, Tim. Manche nennen es auch ›das Nest‹. Wir bewahren dort den Schlüssel zum Äußeren Tempel auf.«
»Muss ich das jetzt verstehen?«
»Um in den IT zu kommen, muss man erst den ÄT durchqueren – so einfach ist das.«
»Dann ist ja alles gut.«
Bevor er genau erkennen konnte, was Jamila in dem Dunklen Raum tat, kam sie ihm schon wieder entgegen und hielt ihm einen langen Schlüssel vor die Nase. »Der hilft uns, das nächste Puzzle zu öffnen.«
Sie durchquerten die Halle abermals, diesmal in ostwestlicher Richtung, und gelangten so an eine Tür, die mit einer Stahlplatte verstärkt war. Jamila schloss diese auf und führte Tim in einen lang gestreckten Bereich, der eher ein Flur als ein Zimmer war. Nun befänden sie sich im ÄT – dem Äußeren Tempel –, erklärte sie.
Zwei Lichtkegel tasteten die Wände ab. Tim sah eine Wand mit offenbar wahllos zusammengetragenen Fotografien in unterschiedlich großen Rahmen. Darüber hing eine Art Kronleuchter mit einem Kettchen dran. Rechter Hand gingen zwei Türen ab, die hintere war gepanzert und über eine hölzerne Stufe zu erreichen. Sein Lichtfinger verharrte auf einem Kombinationsschloss.
»Geht es da zum Inneren Tempel?«
»Nein. Das ist der Tresorraum, sozusagen unsere Trophäenkammer: Der Orden bewahrt darin alles auf, was er an Dokumenten und Beutestücken von anderen Geheimgesellschaften zusammengetragen hat. Und die Tür hier gleich rechts lässt du am besten zu, sonst wirst du unter Gerümpel begraben. Wenn du allerdings auf falsche Gorillaschädel stehst…«
»Dann liegt der IT wohl hinter dem Schott da links«, kürzte Tim ihre Aufzählung ab. Es handelte sich um eine gewaltige Tür, die aussah, als bestehe sie aus massivem Eisen.
»Volltreffer.«
»Ich vermute, jetzt kommt wieder ein Puzzle?«
»Richtig geraten. Der Schlüssel dazu befindet sich in der ›Höhle‹.« Sie leuchtete auf die Tür eines kleinen Wandtresors zu ihrer Linken. Auch dieser Schrank war nur mit einer Zahlenkombination zu öffnen.
»Ihr seid wirklich von Schlössern besessen!«, stöhnte Tim, während Jamila sich am Wählrad des Safes zu schaffen machte. »322?«, tippte er und erntete dafür prompt einen strafenden Blick. Sie öffnete die kleine, schwere Stahltür und entnahm dem Panzerschrank einen Schlüssel, dessen Schaft wie ein Skelett geformt war.
Tim hob die Augenbrauen. »Das muss man euch lassen, stilecht seid ihr bis ins letzte Detail.«
Jamila steckte den Skelettschlüssel ins Schloss der Eisentür und drehte ihn um. Die verborgene Mechanik antwortete mit einem satten metallischen Rasten. Sie zog unter sichtlicher Anstrengung an einem Ring die Tür auf und deutete in den dahinter liegenden Raum. »Nach Ihnen, Monsieur Savant.«
Er ignorierte die kleine Spitze auf seine Begabung und trat, ein wenig scheu, unter den Türsturz. Wie ein magisches Zeichen zur Abwehr von Eindringlingen hing gleich im Rahmen beiderseits das golden glänzende Schädel- und Knochensymbol. Zur Sicherheit ließ Tim zunächst nur den Lichtkegel seiner Handlampe das Dunkel des Inneren Tempels erkunden.
Das quadratische Gemach musste direkt über dem Leuchtkäferraum liegen, war aber ungefähr um ein Drittel kleiner. Tim schätzte es auf gut vier mal vier Meter. Die Wände waren bis zu einer Höhe von etwa einem Meter zwanzig mit schwarzen Walnusspaneelen verkleidet. Darüber hingen diverse Ölgemälde, offensichtlich kostbarer, zumindest aber weniger ramponiert als die Porträts im Diningroom. Wie schon im Erdgeschoss gab es auch hier das um die Mitte des 19. Jahrhunderts übliche Gepränge aus stuckverzierten Deckenfriesen, Bogen, Pilastern und Säulen. Rechts befand sich ein Kamin. Gleich hinter dem Eingang – fast wie ein Fußabtreter – prangte am Boden ein Mosaik mit der Logenzahl 322. Als wäre diese eine Spiegelung, wiederholte sie sich an der gegenüberliegenden Wand; daneben stand der Name Demosthenes.
»Geh ruhig hinein. Die Abschussvorrichtung für die Giftpfeile habe ich abgestellt«, sagte eine trockene Stimme hinter ihm.
Bedächtigen Schrittes betrat er den Raum. Jamila blieb ihm dicht auf den Fersen. Er lenkte den Blick nach oben zu dem blau ausgemalten
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