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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Vielleicht die Zahnprothese von Demosthenes, aber nicht das da.« Seine Lampe zielte ins Zentrum des Schreins.
    Darin hing eine Art Model, wie man sie benutzt, um Muster in Backteig zu drücken. Genauer gesagt handelte es sich um eine schwarzbraune Holztafel, in die ein Frauenbildnis geschnitzt war; die feinen Linien hoben sich hell von dem dunkel gebeizten Hintergrund ab. Die abgebildete Figur war im hellenistischen Stil gestaltet und trug ein langes Gewand.
    »Das ist Eulogia, die Göttin der Eloquenz«, stellte Jamila klar.
    »Offen gestanden habe ich bis jetzt nur in Verbindung mit Skull and Bones von dieser Schutzheiligen der Quasselstrippen gehört. Würde mich nicht wundern, wenn sie nur eine Erfindung von euren Gründern ist, um…« Seine Stimme versickerte, weil ihm kein vernünftiger Grund einfiel, wieso sich jemand für die Beredsamkeit eine Göttin einfallen ließ.
    Nachdenklich betrachtete er den eingravierten Text unterhalb der Frauendarstellung.

    322 Eulogia est

    Tim meinte, im Geist ein schwaches Glühen wahrzunehmen, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. ›»Die Loge ist Eulogia‹, ›Die Loge ist die Beredsamkeit‹«, versuchte er sich mit einigen Übersetzungen des lateinischen Wortspiels. Er zuckte die Achseln. »Klingt für mich nur nach Selbstbeweihräucherung.«
    »Was Besseres habe ich auch nicht zu bieten. Das hier ist in Sachen Skull and Bones der ultimative Kick«, sagte Jamila verschnupft.
    Tim sah sie nur mitleidsvoll an.
    Sie schlug verärgert die Tür des Schreins zu. »Möchte der Herr noch etwas sehen? Vielleicht den Committee Room, den Dachboden oder…?«

»Ihr habt einen Raum, der nach dem Komitee benannt ist?«, unterbrach sie Tim. So hatte Beale im dritten Blatt seines Vermächtnisses die Erbengemeinschaft genannt.
    Jamila nickte. »Da staunst du, was? Er ist auf der anderen Seite des Geschosses.«
    »Ich würde ihn mir gerne anschauen. Sofern uns die Zeit dazu reicht.«
    Sie blickte auf ihre Uhr. »Ein paar Minuten haben wir noch. Komm!«
    Seite an Seite liefen sie zur Tür, Jamila forsch, Tim grübelnd. Als Gentleman ließ er ihr den Vortritt in den Äußeren Tempel. Dabei fiel sein Blick erneut auf die große 322 am Fußboden. Die Ziffern schienen zu leuchten.
    »Was hat das zu bedeuten?«
    »Wie bitte?«, fragte Jamila von draußen.
    Er folgte ihr in den Äußeren Tempel, die Augen weiter auf die Logenzahl geheftet. »Ich habe neulich von der 322 geträumt. Lauter Ziffern fielen auf mich herab und wollten mich fressen, aber die 322 hat mich gerettet.«

    »Was du nicht sagst. Darf ich mal eben?« Sie musste ihn förmlich aus dem Weg schieben, um die schwere Eisentür zu schließen und mit dem Skelettschlüssel zu verriegeln. Während sie diesen in den Wandsafe zurücklegte und mit dem Drehrad die Kombination verwarf, blieb Tims Blick weiter auf die Stelle gerichtet, wo – nun hinter dem Schott – die Logenzahl am Boden prangte.
    Plötzlich hallte ein Quietschen durchs Haus.
    »O nein!«, hauchte Jamila.
    Tim nahm ihre Stimme nur am Rande seines Bewusstseins wahr, weil er einfach nicht von den drei Ziffern hinter der Tür loskam. Während er noch das soeben wahrgenommene Glühen in seinem Geist zu ergründen suchte, tastete Jamila hektisch an ihrem Hals und den Schultern herum. Dann hatte sie endlich den Grund ihrer Aufregung gefunden.
    »Mist! Als du mich vorhin fast umgeworfen hättest, ist mir der Ohrstöpsel rausgerutscht.«
    Auch diese, zugegebenermaßen sehr leise Erklärung registrierte Tim nur als unwichtiges Hintergrundgeräusch.
    Nach wie vor starrte er wie mit Röntgenblick auf die Tür und meinte tatsächlich auch hindurchzusehen, denn in seiner Erinnerung existierte noch immer dieses perfekte Bild von der 322.
    Plötzlich fühlte er sich am Ärmel gepackt, und ein aufgeregtes Wispern drang an sein Ohr. »Hörst du nicht? Jemand hat gerade den Tempel betreten. Zwei Personen. Wir müssen raus!«
    Endlich wandte er sich zu Jamila um, doch immer wieder sprangen seine Augen zu dem eigentlich nicht mehr sichtbaren Zahlenrätsel zurück. Ja, es war ein Zahlenrätsel! Endlich begann er zu begreifen…

    »Drehst du jetzt völlig durch? Komm endlich, Tim!«, zischte Jamila, zerrte ihn aus dem Äußeren Tempel heraus und verschloss die Tür.
    Aus dem Untergeschoss drangen leise Stimmen herauf. Und dann auch Licht, weil selbiges im Main Foyer eingeschaltet worden war.
    Endlich kam Tim zu sich. »Was jetzt?«, flüsterte er.
    »Bleib dicht hinter mir und

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