Der Mann, der nichts vergessen konnte
der sozialen Manipulation lernen. Denn das Grundmuster des Social Engineering habe sich in den vergangenen zwanzig Jahren kaum verändert.
»Wenn möglich«, erklärte Kogan in einer Lektion, »versuchen Sie im Vorfeld einige Informationsschnipsel über Ihr Opfer, seine Vorgesetzten oder andere Interna herauszubekommen. Büroklatsch eignet sich besonders gut dazu, manchmal genügt auch ein Schuss ins Blaue. Der Satz ›Ich bin von der Hotline, die Sie angerufen haben‹ wirkt wahre Wunder, weil ständig jemand die Hotline anruft. Wenn Sie völlig danebenliegen, war’s eben eine Verwechslung. Sie entschuldigen sich galant und ziehen sich zurück. Stufe zwei ist die Kontaktaufnahme mit einem Opfer, vorzugsweise durch einen fingierten Telefonanruf. Oft genügt es schon, sich als Techniker auszugeben, der sofort vertrauliche Zugangsdaten benötigt, um eine Katastrophe abzuwenden. Zeitdruck lockert so manche Zunge. Ein bisschen Fachjargon tut ein Übriges.
Und je sympathischer Sie rüberkommen, desto gesprächiger wird Ihr Gegenüber sein. Notfalls drohen Sie damit, den Vorgesetzten behelligen zu müssen. Sie werden staunen, wie effektiv diese Methode ist. Es gibt heute Verschlüsselungsalgorithmen, die selbst der beste Supercomputer der NSA nicht in einer vernünftigen Zeit knacken kann. Doch mit Social Engineering erreichen Sie Ihr Ziel oft in wenigen Stunden, manchmal in Minuten.«
Neben solchem Grundlagenwissen, das für die meisten Anwesenden zumindest theoretisch nicht neu war, vermittelte Kogan vor allem praktische Erfahrungen. Mehr als die Hälfte seiner Zeit verwendete er auf Rollenspiele. Manchmal mussten sich die Seminaristen gegenseitig vertrauliche Informationen abtrotzen, wobei niemand wusste, wer aus ihm welche Indiskretion herauszukitzeln versuchte. Ein andermal wurde ihre Teamfähigkeit erprobt. Sie führten sogar einige echte Hackerangriffe durch, natürlich nur solche, die den betroffenen Einrichtungen keinen Schaden zufügten.
Dann, am Nachmittag des Neujahrstags, kam die Stunde der Entscheidung. Die Gruppe versammelte sich in der großen Halle des Cottages. Alle waren erschöpft. Auch dem Dozenten und seiner Assistentin sah man die Strapazen an.
Kogan zog ein nüchternes Resümee. Er lobte alle für ihren Durchhaltewillen und beschwor noch einmal die drohende Gefahr eines terroristischen Angriffs aus dem Cyberspace herauf. Die Studenten hingen an seinen Lippen, als sei er der allwissende Guru des Informationszeitalters und verkünde himmlische Offenbarungen. Immer öfter hatten sie ihn in den letzten Tagen »Meister« genannt, manche mit einem neckenden Unterton, andere voller Hochachtung. Das war insofern bemerkenswert, als alle Anwesenden auf dem weiten Feld der Informatik zu den Besten der Besten gehörten und einige darüber hinaus Asse in Mathematik waren.
»Ich habe Ihnen nichts vorgemacht«, sagte er zum Schluss seines Resümees. »Wir würden Sie sieben, versprach ich Ihnen. Das haben JJ und ich getan. Drei haben den Parcours bestanden. Doch um die Enttäuschung der Übrigen nicht ins Uferlose zu treiben, darf ich Ihnen jetzt schon sagen, dass Sie alle Gewinner sind, so Sie es möchten. Auch wenn Sie vielleicht an dem Experiment nicht teilnehmen dürfen, werde ich Ihre Namen auf eine Empfehlungsliste setzen, und die meisten von Ihnen werden nach Abschluss des Studiums eine hoffnungsvolle Karriere bei der NSA beginnen können. Das Zeug dazu haben Sie alle. Nur an eines muss ich Sie erinnern: Erzählen Sie niemandem, wie Sie an diesen Vorzug gelangt sind! Genauso wenig, wie es ein ›Zwischen den Jahren‹ gibt, hat es jemals dieses Seminar gegeben.«
Im Anschluss nannte Kogan die Namen der drei Besten. Mit knappem Vorsprung hatte es Justin Flock auf Platz eins geschafft, dicht gefolgt von Karim Al Massari. Die Bronzemedaille ging an Tianna Walsh, ein dreiundzwanzigjähriges Vollweib mit roten Haaren und Sommersprossen. Sie konnte, ohne Luft zu holen, stundenlang reden, und zwar nicht nur Nonsens wie Justin. Ihr Spezialgebiet waren neuronale Netze, Computerprogramme, die einen Verbund von Gehirnzellen nachbildeten.
Kogan bat die Gewinner in die Bibliothek. JJ bemerkte einige lange Gesichter bei den zurückbleibenden acht Kandidaten. Sie hatten wirklich ihr Bestes gegeben. Doch Niederlagen gehörten nun mal zum Leben. Je eher sie das lernten, desto besser würden sie ihre Zukunft meistern.
In der halbkreisförmigen Bibliothek des Klubhauses richtete Kogan das Wort an die stolzen
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