Der Mann, der nichts vergessen konnte
stand Tim allein am Fenster hinter dem Schreibtisch des Librarians und starrte gedankenversunken in den Hof hinaus. Es war kurz nach zehn, das Jefferson Building hatte dem Publikum soeben seine Pforten geöffnet. Er sah also endlich wieder Menschen und kam sich ein bisschen weniger wie das Phantom der Nationalbibliothek vor. Von Jamila hatte er seit dem Treffen mit Owl nichts mehr gehört. Ob sie zu dem Bergungsteam gehörte, das sicher schon auf dem Weg nach Virginia war? Er vermutete es. Kogan schien an einem großen Mitwisserkreis nicht sonderlich interessiert zu sein. Trotzdem wunderte sich Tim immer noch, warum die Eule diesen arroganten Flock mit ins Boot geholt hatte. Wenn im Schach der Gegner so einen Zug machte, dann war er entweder dumm oder unheimlich raffiniert.
Er seufzte, weil er unschlüssig war, ob und wann er Plan B ausführen sollte. Ohne Jamilas Unterstützung würden ihn die NSA-Agenten vermutlich binnen vierundzwanzig Stunden wieder einfangen. Keine sehr ermutigende Vorstellung.
Sein Blick wanderte nach oben zu den bleigrauen Wolken, die über Washington hingen wie düstere Unglücksboten. Als er wieder herabsank, durchfuhr Tim ein elektrischer Schlag, so zumindest fühlte es sich an. Er hatte gerade, nur wenige Meter unter seinem Fenster, eine Gestalt entdeckt, grobschlächtig und offenbar sehr in Eile, die zügig den Hof durchquerte; schon im nächsten Moment war sie aus seinem Blickfeld verschwunden.
Nicht zum ersten Mal sah er diesen Mann, jetzt allerdings war er sauber rasiert gewesen, trug unter dem flatternden schwarzen Regenmantel einen zu engen, dunkelgrauen Anzug und eine Sonnenbrille, die zu dem düsteren Himmel nicht recht hatte passen wollen. Der Bürstenhaarschnitt war unter einem Hut verborgen, den er krampfhaft mit der Rechten festgehalten hatte, um ihn nicht an die Luftböen im Innenhof zu verlieren – und vielleicht auch zur Aufrechterhaltung seiner Tarnung.
Aber Tim hatte ihn trotzdem erkannt. An seinen ungewöhnlich großen Ohrläppchen.
Es handelte sich um den Stalin-Doppelgänger, der in Cambridge mit einem Küchenmesser auf ihn losgegangen war.
Tim taumelte zurück, als ihm die schrecklichen Dimensionen seiner Entdeckung aufgingen. Der Amokläufer war nur eine Finte gewesen, ein Täuschungsmanöver, vermutlich damit er der Reise in die Staaten zustimmte. Und nach der Ankunft in Washington hatte man ihm einen hollywoodreifen Anschlag vorgegaukelt, damit er aus Angst vor Heckenschützen erst gar nicht auf die Idee kam, aus der Bibliothek zu fliehen.
Mit einem Mal ergab alles einen Sinn. Wer wusste detailliert Bescheid über Ort und Zeit seiner Ankunft in den Staaten? Die NSA. Wer konnte sich in den Videostrom jeder vernetzten Überwachungskamera der Hauptstadt einklinken, um ein bestimmtes Fahrzeug zu observieren? Wieder die NSA. Und wer war bestens dazu gerüstet, das örtliche Verkehrsleitsystem zu manipulieren, um einen einzelnen Wagen aus dem Strom all der anderen Fahrzeuge auszusondern? Abermals die NSA.
Nun, vielleicht nicht die Behörde als Ganzes, machte sich Tim klar, aber irgendjemand, der Zugriff auf das Wissen und wohl auch auf die Infrastruktur der National Security Agency besaß, hatte für ihn einen Türken konstruiert – so wie einst Baron Wolfgang Ritter von Kempelen mit seinem Schachautomaten.
Es war ein miserables Gefühl, am eigenen Leib die Bestätigung all jener Mahnungen zu erfahren, die schon immer vor zu viel staatlicher Überwachung gewarnt hatten. Wenn irgendeine Organisation Möglichkeiten zum Machtmissbrauch schuf, dann würde dieser früher oder später auch zur Anwendung kommen. Tim sah schon die bekümmerten Mienen der Verantwortlichen, hörte ihre geheuchelten Entschuldigungen: Es handele sich um einen bedauerlichen Einzelfall; »schwarze Schafe« gebe es überall.
Das Ausmaß des Betruges nahm die Züge einer klassischen Tragödie an, sobald er über Jamilas Rolle nachdachte. Hatte sie ihm mit ihrer spektakulären Rettungsaktion in Cambridge lediglich ein erbärmliches Schmierentheater vorgeführt? Trieb sogar sie irgendein perfides Spiel mit ihm?
Jedenfalls ahnte er, dass die Maskerade für ihn nichts Gutes bedeutete. Womöglich blieb ihm weniger Zeit zur Flucht, als er sich erhofft hatte.
Er musste es auf eigene Faust versuchen.
Ohne Jamila.
Die Zweifel machten ihn fast wahnsinnig. Mit geballten Fäusten stand er zwei Schritte hinter dem Fenster und beschwor in seinem Geist einen Tornado herauf. Worte, die er in den
Weitere Kostenlose Bücher