Der Mann, der nichts vergessen konnte
vergangenen zehn Jahren bin ich vielmehr selbst zum Wild geworden, auf der ständigen Flucht vor den reaktionären Feinden der Revolution, die ihre Klauen nur allzu gern in mein Fleisch grüben. Wiewohl es mir gelungen ist, ihnen bis heute zu entwischen, fürchte ich doch, die große Aufgabe, der ich mich verschrieben habe, könnte am Ende scheitern und das Schicksal teilte mir das gleiche Los zu wie einst Demosthenes, der sich im Kampfe um die Freiheit der Griechen gegen die makedonische Großmacht verzehrte.
Weil ich nach wie vor um Leib und Leben fürchten muss, vermag ich nicht selbst mein Ihnen gegebenes Versprechen einzulösen. Bestimmt haben Sie längst das Ihnen anvertraute Kästchen geöffnet, meinen Brief an Sie gelesen und warten nun seit Wochen gespannt auf den angekündigten Freund, der Ihnen den Schlüssel zur Enträtselung der hinterlegten Papiere aushändigen soll.
In der Person von Jacob Rosewood wird dieser Gefährte nun, wie ich hoffe, wohlbehalten bei Ihnen vorstellig geworden sein.
Ich verdanke Mr. Rosewood mein Leben. Er hat mich in einer Stunde höchster Not gerettet, half mir nach Hessen zu entkommen und hat mich in fernen Landen in einen Kreis Gleichgesinnter eingeführt, die unsere Sache unterstützen.
Stellen Sie sich vor, einige ihrer Großväter sind selbst Hessians, Männer, mit denen ich noch als Soldat in diesem unsäglichen Krieg gekämpft habe, den ich mit meinem unbedachten Schuss – ach, könnte ich es nur ungeschehen machen!
Zurück zu Mr. Rosewood, dem edelmütigen jungen Mann, der vielleicht gerade jetzt vor Ihnen steht. Er genießt mein vollstes Vertrauen. Dieses Schreiben soll ihm als Legitimation dienen, damit er an meiner Statt kundtun kann, wie mit meinem Eigentum zu verfahren ist. Lassen Sie sich bitte Zeit, meine Handschrift gründlich mit jener zu vergleichen, die Sie in den bei Ihnen deponierten Papieren finden.
Doch nun zu meinem Wunsche: In der letzten Dekade hat sich die Lage für mich und die mit mir verbundenen Freunde der Freiheit nicht ganz unerwartet zugespitzt. Unser Gegner ist mächtig, und er würde unserer jungen Nation am liebsten wieder Ketten anlegen, indem er ihr einen aberwitzigen Tribut auferlegt. Um Sie nicht in Gefahr zu bringen, will ich mich nicht in Details verlieren, sondern Sie nur ergebenst bitten, mir noch für unbestimmte Zeit weiter als sicherer Hort zu dienen. Ich habe Mr. Rosewood gebeten, an den verschlüsselten Blättern einen Austausch vorzunehmen, die Namen der Begünstigten meines Erbes haben einer Revision bedurft. Die alte Fassung soll bitte in Ihrer beider Beisein verbrannt werden. Sollten Sie sich außer Stande sehen, meinem Ersuchen zu entsprechen, dann händigen Sie bitte Mr. Rosewood das Kästchen mit sämtlichen Papieren aus. In der Hoffnung auf Ihr Wohlwollen verbleibe ich Ihr wahrer Freund, T. I. B.
Tim merkte, wie sich seine Blase entleerte. Schnell steckte er den Brief in seine Tasche zurück. Seine Hände zitterten vor Aufregung. In seinem Kopf braute sich ein Gewitter zusammen, das sich schon mit ersten Blitzen ankündigte.
Allein das Datum des Briefes war wie ein Ausrufezeichen hinter allem, was er bisher herausgefunden hatte. Im Amerikanischen wurde der Monat vor dem Tag geschrieben, in Ziffern geschrieben stand da also 3 22 1832.
322 Eulogia est. Nur seine Lippen bewegten sich.
Die Zahl sagt dir die Wahrheit.
Von dem Übrigen ganz abgesehen. Zweifellos handelte es sich bei Jacob Rosewood um niemand anderen als seinen Ahnen – der englische Nachname war ja die Übersetzung des deutschen Wortes »Rosenholz«. Beale betrachtete ihn als seinen Lebensretter, saßen ihm doch tödliche »Klauen« schon im Nacken – das war sicher eine Anspielung auf den Order of File and Claw. Jacob Rosenholz hatte seinen älteren Freund »in einen Kreis Gleichgesinnter eingeführt, die unsere Sache unterstützen«. Dabei konnte es sich nur um die Geheimgesellschaft handeln, in die auch William H. Russel aufgenommen worden war, der nach ihrem Vorbild später Skull and Bones gründete. Mit einem Mal fügte sich alles zusammen: der »aberwitzige Tribut«, was sich nur auf die Urschrift der Unabhängigkeitserklärung beziehen konnte; Demosthenes als Metapher für den Kampf um die Freiheit, die Beale mit einer Lüge schützen wollte; der deutschsprachige Text im Blatt I der Chiffre, der erst im Zuge des späteren Austauschs hinzugefügt wurde, gewiss auch zur Verwirrung von Schatzsuchern gedacht; die scheinbaren chronologischen
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