Der Mann, der nichts vergessen konnte
vergangenen Tagen und Wochen gehört hatte, begannen darin zu kreisen wie auf einem Karussell. Seine Erinnerungen nutzten sich niemals ab. Und standen selten still. Alles war in seinem Sinn noch genauso lebendig, als würde er es gerade zum ersten Mal wahrnehmen. Auf dem Endlosband kamen Jamilas Äußerungen über den Zusammenhang zwischen Thomas Beales Namen und seinem jüdischen Pendant Amos A. Bethel vorbeigerauscht. Die Rosenholz-Dateien seien der Schlüssel für ihre Theorie gewesen, hatte sie gesagt und dabei mehrmals das Wort »wir« gebraucht: Wir vermuten, dass die Staatssicherheit der DDR die Brisanz des Dokuments erkannt hatte, aber nichts damit anfangen konnte. War ihre Muse die Eule gewesen?
Kogan sprach Deutsch. Niemand schien dem bei der Unterredung am vergangenen Nachmittag besondere Beachtung geschenkt zu haben, aber Tim war es aufgefallen.
Konnte es sein, dass Jamilas Boss zu der Zeit in Berlin war, als die CIA die Rosenholz-Dateien erbeutet hatte? Hatte er mit dem Coup womöglich zu tun gehabt?
Wenn du deinen Gegner nicht besiegen kannst, dann lass ihn sich selbst besiegen. Wieder tönten die Worte jener schicksalhaften Nacht des 9. November 1989 durch Tims Sinn.
Der Mörder seiner Eltern hatte sie gebraucht, und es war Kogans Credo…
Tims Nase kitzelte. Auf der Suche nach einem Papiertaschentuch lief er zum Schreibtisch, wo seine Jacke über der Stuhllehne hing. Natürlich befand es sich an Ort und Stelle, sein Gedächtnis irrte ja nie. Doch als er in die Innentasche griff, erstarrte er. Da war noch etwas anderes! Ein zusammengefaltetes Stück Papier. Er würde sich entsinnen, wenn er es selbst dorthin gesteckt hätte.
Ich Idiot!, schoss es ihm durch den Kopf, als er sich an Jamilas Verabschiedung erinnerte, diese ungewohnte Umarmung und den noch ungewöhnlicheren Spitznamen.
Champ. Bei dem verklausulierten Gespräch über das Fluchtfahrzeug hatte sie ihn auch so genannt: Für mich wirst du immer der Champion bleiben, Tim.
Ein Gefühl unendlicher Erleichterung durchströmte ihn. Dann hatte sie ihn also doch nicht hintergangen. Sie war auf seiner Seite. Sie liebte ihn…!
Nun, Letzteres war vielleicht nur Wunschdenken.
Mit einem Mal kam sich Tim von tausend Augen beobachtet und von ebenso vielen Ohren belauscht vor. Seine Hand zog sich aus der Tasche zurück. Es war zu gefährlich, den Zettel einfach hier auseinanderzufalten und zu lesen, wo er möglicherweise beobachtet wurde.
Er zog die Jacke an, so als sei das Nasenkribbeln überwunden, und täuschte gleich darauf ein weiteres Niesen vor, dann noch eines. Betont hektisch stürzte er in Richtung Secretary’s Office davon. Ein paar weitere falsche Nieser später war er endlich im Badezimmer, das ihm in den letzten Tagen schon mehrmals als Rückzugsgebiet gedient hatte. Doch konnte er hier tatsächlich vor den unsichtbaren Augen und Ohren sicher sein?
Er zog sich die Hose herunter und setzte sich auf die Toilette.
Weit vorgebeugt förderte er endlich das Taschentuch sowie dahinter versteckt auch Jamilas Nachricht aus der Innentasche hervor. Während er sich mit der einen Hand ausgiebig schnäuzte, entfaltete er im Sichtschutz seiner Jacke mit der anderen den Zettel. Dabei purzelte ein Kärtchen heraus und wäre fast zwischen seine Beine hindurch ins Klosett gefallen.
Metrorail One Day Pass, las Tim erstaunt. Jamila hatte ihm tatsächlich einen Tagesfahrschein für die Washingtoner U-Bahn geschenkt! Er drehte das Ticket um. Unter einem Magnetstreifen stand mit schwarzem Filzstift in eng gesetzten Blockbuchstaben: »Arlington Cemetery Station, East Potamac Park Besucherparkplatz, schwarzer VW Beetle, DHB 322, Schlüssel auf linkem Hinterrad«.
Ein bisschen Boneswoman ist Jamila also doch noch, dachte Tim, wenn sie einen schwarzen deutschen Wagen mit der 322 im Kennzeichen besitzt und diesen ausgerechnet an einem Gräberfeld abstellt.
Immerhin, sie hielt sich an ihr Wort. Er war neugierig, welche Instruktionen sie noch für ihn aufgeschrieben hatte.
Möglichst unauffällig ließ er das Ticket wieder in der Tasche verschwinden und wandte sich dem Zettel zu. Um ihn in der Deckung seiner Jacke zu lassen, musste er zum Lesen das Kinn auf die Brust drücken. Der Inhalt sorgte für die zweite Elektrisierung an diesem Morgen.
Do. 22. März 1832 Robt. Morris, Esq.:
Mein sehr geschätzter Freund: Leider kann ich Ihnen nicht wie in meinem letzten Briefe von den Vergnügungen der Jagd auf Büffel und Grizzlys berichten. In den
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