Der Mann, der nichts vergessen konnte
er nur im Hemd und schwitzte trotzdem aus allen Poren. Lediglich durch die regelmäßig aus dem Krater fliegenden Erdhaufen war noch erkennbar, dass es Leben am Grunde des Loches gab.
»Ist dir nicht warm in deiner gefütterten Lederjacke?«, grunzte er zu Jamila hinauf.
»Ich fühle mich sehr wohl. Darf ich dir einen Kaffee anbieten?«
»Danke. Ich muss noch meinen letzten Koffeinrausch…« Ein metallisches Klacken bereitete seinem Gezeter schlagartig ein Ende.
Jamila sprang auf und lief zum Rand der Grube. »Was war das?«
Er kauerte unter ihr am Boden und strich mit der Hand Erde zur Seite. Dann blickte er zu ihr herauf. »Ich würde sagen, die Bezeichnung Eisendeckel trifft es wohl am genauesten.«
Sie spürte, wie ihr Herz heftig zu schlagen begann. »Was wartest du noch? Schaff den Sand drum herum weg und mach das Ding auf.«
»Nein.«
»Was soll das denn jetzt heißen?«
»Du kapierst wohl gar nichts. Das hier ist die Entdeckung des Jahrhunderts. Die Titanic der Kryptologen. Ich habe in dem Projekt das wenigste getan.«
»Lass den Schwachsinn, Justin. Du warst nie ein Gentleman.
Jetzt brauchst du auch nicht damit anzufangen.«
»Keine Widerrede. Nie was von Hackerehre gehört? Ich lasse dir den Vortritt, wie es sich gehört.«
»Wenn’s danach ginge, müsste Tim das Gefäß öffnen.«
Er schmunzelte. »So? Du nennst ihn also Tim? Hat Karim endlich einen Nachfolger bekommen?«
Jamila spürte, wie wieder die Wut in ihr hochkochte, die sie schon am vergangenen Abend in der Bibliothek verspürt hatte.
War Justin etwa eifersüchtig? Hatte er Karim verraten, um sich nachher an sie heranzumachen…?
Während sie noch mit ihren Gefühlen kämpfte, hatte Justin schon Spaten und Hacke aus dem Loch geschleudert und war über die Leiter hinausgeklettert. Er klaubte den Handfeger und das Kleinwerkzeug vom Boden auf und streckte es ihr grinsend entgegen. »Hier, damit du nicht zweimal runtergehen musst. Wenn du den Deckel geöffnet hast, schieße ich mit meinem Handy ein Erinnerungsfoto, für die NSA-Ruhmeshalle.«
Sie entriss ihm wütend die Utensilien und kletterte rückwärts in die Grube hinab.
Mit dem Handbesen entfernte sie zunächst den Sand rund um den Deckel. Am Rand war die ebene Metallplatte mit einer dicken Wachsschicht versiegelt, was die Verbindung zum darunter befindlichen Behältnis einigermaßen vor Rost geschützt haben dürfte. Vom Gefäß selbst war nicht viel zu erkennen, möglicherweise handelte es sich um einen alten Schmelztiegel. Sonderbar fand Jamila, dass dieser nicht von Steinen umgeben war, wie Beale es im Blatt II seiner Chiffren beschrieben hatte, sondern einfach im Erdreich ruhte. Auch fragte sie sich, warum das Komitee Beales Schatz nie gehoben hatte. Waren sie von ihm mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet worden? Oder hatte Russel, dessen Familie durch den Opiumhandel zu Reichtum gelangt war, eigenes Geld dazugeschossen? Denkbar wäre es. Vielleicht war der Schatz aber auch nur als »Kriegskasse« gedacht, falls es in der Auseinandersetzung mit dem loyalistischen Orden der Akte und Klaue zum Äußersten kam.
Endlich hatte Jamila mit dem Meißel den wächsernen Korrosionsschutz beseitigt. Sie umfasste den Deckel mit beiden Händen und versuchte, ihn mit aller Kraft vom Tiegel zu schieben, aber das ging nicht. Ihn anzugeben gelang ihr ebenfalls nicht, vermutlich allein wegen des Gewichts. Also griff sie erneut zum Meißel und setzte ihn an der Naht zwischen Platte und Gefäß an. Beim ersten Schlag mit dem Hammer tat sich gar nichts.
»Streng dich mal an«, rief Justin hörbar erheitert von oben.
»Danke für die Retourkutsche«, knurrte sie von unten und schickte ihren ganzen Unmut in einen weiteren Schlag.
Der Deckel rutschte um etwa einen Zoll zur Seite.
»Er löst sich!«, presste sie hervor, schon wieder über das Gefäß gebeugt und mit den Händen heftig schiebend. Unter ihr öffnete sich ein Spalt, und sie blickte in ein schwarzes Nichts.
Ehe sie begreifen konnte, was sie da sah, ertönte über ihr Justins Stimme. Sie klang mit einem Mal ganz anders als vorher, emotionslos, fast so, als spreche ein Automat.
»Hände hoch und keine Bewegung, Morgiane. Sonst schieße ich.«
Koffein und das Gefühl der Macht über das Leben eines anderen Menschen sind eine interessante Mischung, dachte Justin Flock, während er mit seiner Pistole auf JJ zielte. Sicher fragte sie sich, wo der Cyberpunk eine Beretta Px4 Storm herhatte. Die Überraschung in ihrem Gesicht
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