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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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von der unverhofften Wendung, aber auch glücklich und erleichtert stieg sie aus der Grube. Oben sah sie Justin bäuchlings in jenem Sand liegen, den er selbst aus dem Loch geschaufelt hatte. An seinem Hinterkopf befand sich eine blutige Platzwunde. Tim kniete bei ihm und fühlte seine Halsschlagader.
    Sie hob rasch Justins Beretta vom Boden auf, ließ das Magazin herausfallen und schickte sich an, es zu entleeren.
    Dabei hielt sie mit einem Mal inne. Aus einer verrückten Eingebung heraus warf sie eines der 9-mm-Projektile zielgenau in den Eisentiegel. Anstatt des erwarteten Klimperns vernahm sie nur ein leises Flopp! Fasziniert von dieser Entdeckung beugte sie sich über den Grubenrand, um auf den Grund des Tiegels zu sehen…
    »Er lebt«, sagte neben ihr Tim.
    Sie schob das Magazin wieder in den Pistolengriff, steckte diese hinten in den Gürtel und wandte sich ihrem Retter zu.
    »Dann hast du meinen Wagen also gefunden?«
    Er richtete sich auf und sah sie auf eine Weise an, die sie nicht recht zu deuten wusste. Es schien, als sprudelten mit einem Mal die unterschiedlichsten Empfindungen aus ihm empor, Gefühle, die in seiner lange so hermetisch abgeriegelten Seele gefangen gehalten und nun plötzlich freigelassen worden waren. Sein Körper kippte nach vorn, und für einen Augenblick fürchtete Jamila tatsächlich, er könnte die Besinnung verlieren, aber dann lief er auf sie zu, nahm sie in die Arme und küsste sie.
    Sie war überrascht.
    Natürlich hatte sie bemerkt, dass er viel für sie empfand, aber wie er neuerdings mit seinen Ängsten umging, kam für sie doch unerwartet. Wenngleich nicht unwillkommen. Jamila selbst empfand längst mehr für ihn, als es mit Worten wie Kollegialität oder Freundschaft auszudrücken war. Nein – erst in diesem Moment wurde sie sich dessen voll bewusst –, sie liebte ihn.
    Der Kuss dauerte nicht sehr lang. Es war ein eher scheues Bekenntnis seiner Zuneigung, offenbar fehlte Tim die Übung.
    Aber trotzdem oder gerade deshalb saugte Jamila diesen Wimpernschlag der Seligkeit genussvoll in sich auf.
    »Bitte werde nie die Nummer fünfzig«, flehte er, nachdem sein Mut wohl aufgebraucht war.
    Sie blinzelte verwundert. »Nummer…?«
    »Sag bloß, du kennst Paul Simons Song nicht: 50 Ways to Leave Your Lover.«
    »Hattest du denn vor mir schon neunundvierzig…?«
    »Niederlagen«, fiel er ihr ins Wort. Verständlicherweise fiel ihm das Lächeln immer noch schwer. »Nachdem ich aus der Bibliothek geflohen war und dein Gruftimobil beim Arlington-Friedhof gefunden habe, bin ich sofort hergedüst.«
    Die Anspielung auf einige Besonderheiten ihres VW Beetle war nicht zu überhören, und sie meinte sich rechtfertigen zu müssen. »Du wirst es nicht glauben, aber die 322 im Kennzeichen ist reiner Zufall.«

    Er sah sie ungläubig an, ging aber nicht weiter darauf ein.
    »Glücklicherweise kann man in deinem Navigationssystem auch geographische Positionsdaten eingeben. Die Funktion ist zwar etwas versteckt, aber für Schatzsucher ungemein praktisch. Auf diese Weise konnte ich mich bis zu eurem Jeep führen lassen. Der Cherokee ist doch eurer…?«
    Jamila erstarrte, weil Tim plötzlich von ihr weggerissen wurde. Von hinten schlang sich ein Arm um seine Brust, und die Klinge eines Stiletts legte sich an seinen Hals. Reflexhaft griff sie nach dem Holster, zog ihre Pistole und…
    »Keine Bewegung, oder dein Lover bekommt Atemprobleme«, zischte Justin, ehe sie seinen Kopf ins Visier nehmen konnte. Sein Blick verhieß nichts Gutes. Vorhin schon hatte er sich seiner Entschlossenheit gerühmt, und diese schien noch wilder geworden zu sein – wie bei einem verletzten Raubtier. Zudem atmete Tim besorgniserregend schwer. Er war sichtlich einem Anfall nahe, wie er ihn in Heathrow erlitten hatte. Justin würde mit seinem von Koffein und Allmachtsvorstellungen berauschten Verstand bestimmt kein Verständnis zeigen, sondern ihn eher umbringen, als seine Geisel freizugeben. Sie musste bei der nächsten Gelegenheit handeln. Langsam ließ sie die Waffe sinken.
    »Wie soll es jetzt deiner Meinung nach mit uns weitergehen, Justin?« Es war immer gut, einen potenziellen Täter mit Vornamen anzureden. Das schuf Vertrautheit und erhöhte die Hemmschwelle zum Töten.
    Er grinste. »Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen – schmeiß deine Knarre in den Tiegel, JJ.«
    Jamilas Augen verengten sich. Dieser Wahnsinnige ließ ihr keine Wahl. Er würde nicht zögern, Tim die Kehle

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