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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Fame der NSA hatte schießen wollen. Sie steckte es ein und legte das Kleidungsstück behutsam über Kopf und Oberkörper des Toten. Danach begab sie sich zur Grube und kletterte über die Leiter zum Tiegel hinab. Glücklicherweise war dessen Öffnung weit, denn sie musste ihren ganzen Arm, die Schulter und sogar den Kopf hineinstecken, um an den Grund zu reichen. Als alles wieder draußen war, hielt sie ein flaches, braunschwarzes, verschnürtes und versiegeltes Paket in der Hand.
    »Sieht aus wie eine Akte«, riet Tim.

    Sie kletterte rasch zu ihm hinauf. Gemeinsam bestaunten sie den Fund. Er war nur etwa so dick wie Jamilas Daumen, und die übrigen Dimensionen entsprachen ungefähr denen eines Briefbogens.
    »Meinst du, es ist das, was wir glauben?«, fragte sie.
    »Die Urschrift der Unabhängigkeitserklärung?« Ihn durchlief ein Schauer. »Sieh nach, dann wissen wir’s.«
    »Ich bin Historikerin.«
    »Was soll das nun wieder heißen?«
    »Hast du mal gesehen, was für einen Aufwand die anstellen, um die – womöglich falsche – Unabhängigkeitserklärung im Nationalarchiv vor dem Zerfall zu bewahren?«
    »Mach das Päckchen schon auf. Ich bin eine lebende Digitalkamera mit Texterkennungssystem. In ein paar Sekunden habe ich das Ding eingescannt, und während du alles wieder zuschnürst, kann ich dir den Inhalt deklamieren.«
    »Na gut. Ein paar Sekunden machen sicher nichts aus.«
    Jamila bettete das Paket auf Tims ausgebreitete Arme und betrachtete das Siegel. Darauf prangten die Lettern TJB – für Thomas Jefferson Beale. Um es nicht zu zerstören, zerschnitt sie die Schnur mit einem Messer, das sie flugs aus der Tasche gezaubert hatte.
    »Es ist in Ölpapier eingeschlagen, um die Feuchtigkeit abzuhalten«, erläuterte sie, während sie selbiges sehr behutsam auseinanderfaltete, oder besser abwickelte, denn die schützende Schicht umgab den Inhalt in mehreren Lagen. Darunter folgte Seidenpapier, sehr dünn und weich.
    »Fast wie eine japanische Geschenkverpackung«, kommentierte Tim, weil er sich in der Rolle des Klapptisches unterfordert fühlte.
    »Bin schon fertig«, sagte Jamila und sah mit einem Mal reichlich verdutzt aus.

    Auch Tim staunte. In dem Paket befand sich ein einziges Blatt, unter der Bürde der Jahrhunderte braun und fleckig geworden, mit einer blassen, verschnörkelten Handschrift darauf. Den Text vermochte sogar Jamila binnen Sekunden zu lesen.

    »Pech gehabt. Ins Land des Glücks findest du nur, wenn du die richtige
Unabhängigkeitserklärung kennst. Der Eure in 322, T .J. B.«

    »Du kannst den Scherzartikel wieder einpacken«, sagte Tim, weil Jamila wie vom Donner gerührt war.
    Sie sah ihn verständnislos an. »Du meinst, er macht sich nur über uns lustig?«
    Trotz der makabren Begleitumstände drängte sich ein Schmunzeln auf seine Lippen. »Nicht über uns beide speziell, würde ich vermuten, aber über jene, die der raffinierte Hund damit austricksen wollte, die Gierigen und Unersättlichen, die nur hinter seinem Vermögen her sind. Vielleicht auch den Orden der Akte und Klaue.«
    Zu seiner Verwunderung schien sie der »Scherzartikel« mehr zu verstören, als Überraschung allein es zu erklären vermochte.
    Ihr Blick wanderte wieder zu Beales Notiz. »Dann ist unsere Unabhängigkeitserklärung also tatsächlich falsch?«
    Tim schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er meint etwas anderes. Oder hast du vergessen, dass im Blatt II ausdrücklich von zwei Depots die Rede war?«
    »Aber gestern im Librarian’s Office, da hast du Emil Kogan doch erklärt…«
    »Pst!«, unterbrach er sie. »Du bist jetzt einfach mal still. Für eine Weile übernehme ich das Kommando, und wenn du auch nur Piep sagst, bevor ich es dir erlaube, brechen wir den Einsatz ab.«

    »Darf ich wenigstens fragen, was du vorhast?«
    »Ja. Wir machen eine Spritztour nach Maryland, ins Herzland der NSA.«

    Tim hatte Jamila kampflos das Steuer des Jeep Grand Cherokee überlassen. Von dem unter Männern weit verbreiteten Aberglauben, die Fähigkeit zum Autofahren im Allgemeinen und die zum Einparken im Besonderen sei auf dem Y-Chromosom verankert und damit Frauen völlig absent, hielt er nichts. Schon weil er selbst ein miserabler Fahrzeuglenker war und sich kaum vorzustellen vermochte, dass ihn andere in seinem Unvermögen übertreffen könnten.
    Immerhin hatte er sich erweichen lassen, Jamilas VW Beetle in den nächsten Ort zu fahren, nachdem seine Schnittwunde am Hals von ihr fachmännisch aus der Notapotheke des

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