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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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durchzuschneiden.
    Sie warf die Waffe in den Behälter.

    »Gut versenkt«, lobte Justin sie. »Du solltest dich für die NBA bewerben.«
    »Das hat mein Basketballtrainer in Yale auch immer gesagt.«
    Sie streifte die Jacke zurück und stemmte die Hände in den Rücken. »Was nun, Justin?«
    »Du verdammter Hurenbock, halt still, sonst schlitze ich dich auf!«, zischte der, weil Tim sich zu winden begonnen hatte. Er atmete wie ein Marathonläufer nach dem Zieldurchlauf. Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
    Jamila zwang sich zur Ruhe, obwohl innerlich ein Orkan in ihr wütete. »Er hat eine Phobie, Justin. Die körperliche Nähe anderer Menschen versetzt ihn in Panik. Lass ihn einfach los. Dann wird es ihm gleich viel bessergehen.«
    Justin lachte nur. »Da kenne ich noch ein anderes Rezept. Das bringt jeden zur Ruhe. Es ist ohnehin Zeit, dieses erbärmliche Schauspiel zu beenden, wie es sich für ein grandioses Drama gehört: Blut, tote Helden…« Seine Hand umspannte den Stilettgriff noch fester. Tim stieß einen erstickten Laut aus. Ein kleines rotes Rinnsal lief an seinem Hals herab.
    »Lass das, Justin!«, sagte sie in beschwörendem Ton. »Du tust dir damit keinen Gefallen.«
    »So?«, höhnte er. »Warum denn nicht? Mich manipuliert niemand…«
    Blitzschnell zog sie seine Beretta hinter dem Rücken hervor und gab zwei Schüsse ab, die ihn mitten in die Stirn trafen. Mit leerem Blick sank er hinter Tim zu Boden.

    Tim spürte, wie die Hände, die ihn gerade noch hatten toten wollen, nun selbst leblos wurden. Schlaff fielen sie von ihm ab. Trotzdem war er unfähig, sich zu rühren. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in das wie versteinert wirkende Gesicht der Frau, die er vor wenigen Minuten noch geküsst hatte. Warum steht sie immer noch so da?, fragte er sich, die Arme ausgestreckt, die Waffe mit der rauchenden Mündung auf seinen Kopf gerichtet. Schon überwunden geglaubte Zweifel kehrten schlagartig zurück.
    Ist in Wahrheit sie Gomleks Racheengel? Wird sie jetzt auch dich töten?
    »Jamila«, brachte er endlich ihren Namen über die Lippen.
    »Du zielst auf mich.«
    Es schien, als habe er mit diesen Worten einen Bann gebrochen. Sie blinzelte, ließ die Pistole sinken, stürzte auf ihn zu und umarmte ihn. Nein, sie umklammerte ihn. Und sie hatte Kraft! Ihm blieb fast die Luft weg. Ihre Wange lag an der seinen, und als sie wie ein verletztes kleines Mädchen zu schluchzen begann, war er durchaus überrascht.
    »Tim, ich konnte nicht anders, ich musste es tun. Er hätte dich sonst…«
    »Ruhig«, sagte er leise und streichelte ihren Kopf. »Du hast mir das Leben gerettet.«
    Sie schniefte. »Es ist grauenvoll. Da macht man das tausendmal in der Simulation und denkt, man sei ein taffes Mädchen, aber dann, wenn’s plötzlich ernst wird…« Ihre Stimme brach, und sie begann haltlos zu weinen.
    Er kam sich vor wie in einem bizarren Traum. Eben noch hatte er Todesängste ausgestanden, war wieder von Panik überflutet worden. Flock hatte – fast so wie jetzt Jamila, aber trotzdem auf grauenvolle Weise anders – Wange an Wange mit ihm gestanden. Und dann war ihm das Gehirn aus dem Kopf geblasen worden. Das Erlebnis hatte Tim bis ins Mark erschüttert. Müßig zu erwähnen, dass er diesen Moment sein Leben lang nicht vergessen würde.
    Doch dann war da noch die andere Seite, so als sei selbst der Horror nur eine Medaille mit einer hässlichen Fratze vorne und elysischen Wonnen hinten. Denn Jamila zu halten, sie zu trösten, sie zum ersten Mal wirklich schwach zu erleben, als ein Wesen, das bei ihm, dem Neurotiker Tim Labin, Geborgenheit suchte – etwas Paradiesischeres konnte er sich kaum vorstellen.
    Wenn nur nicht hinter ihm eine Leiche mit einem durchlöcherten Schädel läge.
    Jamilas Schluchzen endete jäh. Sie zog den Rotz hoch und sagte mit hinreichend fester Stimme: »Wir sind betrogen worden, Tim.«
    »Von wem?«
    »Von allen. Aber das meine ich nicht.« Sie nahm ihr Gesicht von seiner Wange und deutete ins Loch. »Der Tiegel ist leer.
    Fast leer jedenfalls.«
    »Was meinst du damit?«
    »Es ist kein Gold und Silber drin. Aber auf dem Grund scheint etwas Weiches zu liegen. Als ich vorhin die Patrone reingeworfen habe, hat es nicht geklimpert.«
    »Willst du nachsehen?«
    Jamila nickte. »Aber erst lass mich Justin zudecken.« Sie lief zu dessen Kleidern und hob seinen Mantel auf. Als sie die Taschen kontrollierte, fand sie das Handy, mit dem er angeblich die Fotos für die Hall of

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