Der Mann, der nichts vergessen konnte
einundzwanzigzölliger Flachbildschirm in edlem Aluminiumgehäuse stand. Ihr Blick schweifte über die Schreibtischplatte. Alles war penibel geordnet, nichts anderes kannte sie von ihrem Freund.
»Karim, komm endlich aus der Wanne, sonst wird unser Tisch anderweitig vergeben«, rief sie abermals und bückte sich nach dem Rucksack. Es sah so aus, als habe er Übergewicht bekommen und sei allein von der Tischkante gestürzt. Stück für Stück räumte sie die Utensilien wieder in die Tasche zurück.
Mit einem Mal bemerkte sie unter dem Hängeschrank des Schreibtischs ein Glitzern. Sie ging nun ganz auf die Knie und streckte sich nach dem Ausreißer. Es war ein titanfarbener USB-Stick, ein Speicherstäbchen, auf dem man zwei Gigabyte Daten in der Hosentasche herumtragen konnte. Während sie so unter dem Schrank kauerte, wunderte sie sich, dass Karim immer noch nicht geantwortet hatte.
Dann sah sie das Wasser.
Die Badezimmertür war nur angelehnt. Und über die Schwelle schwappte eine rosarote Brühe.
JJ erschrak so heftig, dass sie sich den Hinterkopf am Hängeschrank anstieß. Rasch kroch sie unter dem Möbel hervor, kam wieder auf die Beine, lief zum Bad und stieß die Tür auf.
Was darauf folgte, war eine lähmende Kälte. Andere Frauen hätten angesichts eines blutüberströmten Mannes auf dem Grund einer überlaufenden Badewanne vermutlich laut losgekreischt, aber nicht JJ. Sie hatte schon schrecklichere Anblicke ertragen und gelernt, dem Tod ins Auge zu blicken.
»Ich kann gar nicht sagen, wie leid mir das tut, Jamila«, beteuerte Kogan. Er war nach JJs Anruf sofort mit dem Taxi nach Cambridge gekommen, um ihr seelischen Beistand zu leisten.
Den hatte sie bitter nötig. Der Anblick von Leichen, die von Terroristen in die Luft gesprengt worden waren, hatte eine ganz andere Qualität als der eines Menschen, den man liebte.
Für den Notarzt lag der Fall klar auf der Hand: Tod durch Ertrinken. Karim müsse beim Baden ausgerutscht sein, sich den Kopf angeschlagen und das Bewusstsein verloren haben, worauf er ins Wasser sank und… JJ kniff die Augen zusammen, um die Tränen zurückzuhalten, als der Leichenwagen losfuhr.
Kogan nahm sie in die Arme. »Es war ein tragischer Unfall, kleine Morgiane.«
»Dafür treiben sich hier aber eine Menge Polizisten herum.«
»Du kennst das Prozedere bei so einem Fall: Jeder wird überprüft. Ich kümmere mich darum, dass sie dich nicht länger als unbedingt nötig verhören. Du hast ja ein wasserdichtes Alibi…«
Bei dem Wort »wasserdicht« brachen bei JJ sämtliche Dämme. Sie hatte sich lange genug beherrscht. Haltlos weinte sie sich an Kogans Schulter aus. Ein Unfall? Sicher. Alles sah danach aus. Aber sie konnte die beiden Männer nicht vergessen, die es so eilig hatten, ihre Limousine zu erreichen und sich aus dem Staub zu machen.
Nach einer Weile löste sich JJ von ihrem alten Mentor.
»Wussten Sie eigentlich, dass Karim und ich zusammenwohnten, Emil?«
Einen Moment lang wirkte sein Gesicht wie versteinert. Aber dann entspannte er sich und sagte: »Ja. Wie lange kennen wir uns schon? Achtzehn Jahre? Das müsstest du doch eigentlich wissen, dass mich im Blindschach so schnell keiner schlägt.
Ich bin, auch ohne das Brett zu sehen, zu jeder Zeit über die Stellung aller Figuren im Bilde.«
Sie betrachtete sein vom Leben verwittertes Gesicht. »Ist das Apartment verwanzt?«
Er hob die Augenbrauen. »Was soll diese Frage, Jamila?«
»Wenn Sie Mikrofone installiert haben, lässt sich vielleicht herausfinden, wie Karim ums Leben kam.«
»Glaubst du wirklich, ich würde dein Vertrauen auf diese Weise missbrauchen?«
Einen kurzen Moment funkelte sie die schwarzen Brillengläser aus versteinerter Miene an, dann sagte sie:
»Karim wollte mich heute Abend dringend sprechen, Emil. Er schien mir irgendwie beunruhigt zu sein. Mit Ihnen hat er am Nachmittag ja auch geredet. Haben Sie eine Ahnung, was ihn beschäftigte?«
»Er meinte, die derzeitigen Turbulenzen auf dem Immobilienmarkt kämen ihm merkwürdig vor. Er befürchtete wohl, wir könnten eine zweite Weltwirtschaftskrise ausgelöst haben.«
»Das ist doch absurd.«
Kogan lächelte traurig. »Ich weiß. Natürlich habe ich versucht, ihn zu beruhigen. Vielleicht war es nicht richtig, euch so hart ranzunehmen. Ihr seid alle ziemlich erschöpft. Wenn man so ausgepowert ist, dann passieren leicht Unfälle.«
Neue Tränen liefen über JJs Wangen. Sie machte sich Vorwürfe. »Hätte ich ihn nicht belogen,
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