Der Mann, der nichts vergessen konnte
russische Vorherrschaft im Schach gebrochen worden war und jetzt ausgerechnet an einen Teutonen ging? Nach Emanuel Laskers Sieg von 1894 war Labin der zweite deutsche Weltmeister überhaupt.
Während der neue Champion geradezu fluchtartig dem Ausgang entgegenstrebte, wurde er einem Sperrfeuer von Fragen ausgesetzt. Ob er Anatoli Karpow nacheifere, der sich im Weltmeisterschaftskampf gegen Viktor Kortschnoi die gleiche Unsportlichkeit herausgenommen habe, wollte ein Journalist wissen. Tim antwortete nicht. Alle Zurufe, auch die wohlwollenden, prallten von ihm ab wie von einem Schützenpanzer. Eigentlich sollten die Pressefritzen begriffen haben, dass er die Nähe anderer Menschen schwer ertragen und gar die Berührung einer fremden Person ihn völlig aus der Fassung bringen konnte. Vermutlich hielten sie ihn für einen Exzentriker, einen verschrobenen Spinner. Zumindest jene, die nie die Hölle der Angst durchwandert hatten.
Dabei existierte das Grauen des Durchlebten nur noch als fernes Echo in seinem Unterbewusstsein, denn die Nacht, in der seine Eltern verbrannt waren, klaffte als schwarzes Loch in seinem Gedächtnis.
An viele, wenn auch nicht alle der früheren Kindheitserinnerungen vermochte er sich durchaus zu erinnern, aber am 9. November 1989 hatte er einen Filmriss erlitten; ihm fehlte die Bild- und Tonspur mehrerer Stunden.
Nur ein paar Minuten des vermissten Streifens hatte ihm ein ungnädiges Schicksal gelassen. Es war kein dramaturgisch sauberer Schnitt, sondern eher ein stümperhaftes Zwischenklebsel:
Männer hievten ihn auf eine Trage. Er sah blinkende blaue Lichter und herumlaufende Feuerwehrleute, hörte Sirenen, Befehle, fauchende Flammen, Geklapper und das Gemurmel vieler Stimmen. Die Rettungssanitäter schleppten ihn durch die Menge zu einem Krankenwagen. Gesichter flogen an ihm vorüber, einige wirkten betroffen, andere interessiert. Plötzlich blickte er in die versteinerte Miene eines Mannes, der ganz in Schwarz gekleidet war und ihn aus übergroßen, starren Augen musterte. Eine unerklärliche Woge der Furcht hatte daraufhin abermals Tims Bewusstsein fortgespült.
Einige Wochen später war er aus dem Koma erwacht, und der behandelnde Arzt hatte ihm gesagt, er sei in einer engen Speisekammer eingesperrt gewesen und wohl nur dadurch dem Inferno entkommen. Der Doktor nannte es ein Wunder, dass Tim überhaupt bei klarem Verstand und nicht querschnittsgelähmt sei. Bei dem Sturz habe er ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und etliche Knochenbrüche erlitten. Der Stationsarzt hatte die Schublade des Nachttisches aufgezogen, ihr ein Buch entnommen und es in Tims Hände gelegt.
»Das hat ein Freund für dich abgeben, als du noch auf der Intensivstation warst.«
»Ein Freund?«
»Seinen Namen hat er nicht genannt. Jetzt kann ich’s dir ja sagen, Tim: Ich war damals überzeugt, du würdest die nächsten Tage nicht überleben oder bestenfalls den Rest deines Lebens im Koma verbringen. ›Sollte der Junge wider Erwarten trotzdem erwachen‹, sagte ich zu deinem Freund, ›dann wird er wohl niemals wieder ein Buch lesen können. Rechnen Sie besser damit, dass er Sie nicht wiedererkennt und sein Leben lang unter schwersten psychischen Schäden leiden wird.‹
Glücklicherweise habe ich mich geirrt.«
»Und meine verlorenen Erinnerungen? Werde ich sie zurückerlangen?«
Dem Arzt war anzusehen gewesen, wie schwer er sich mit einer Antwort tat. »Vielleicht, Tim«, wich er aus. »Vielleicht aber auch nicht. Oft regeneriert sich das Gehirn ganz von allein. Möglicherweise siehst, hörst oder riechst du auch eines Tages irgendetwas, das eine Tür in deinem Geist aufstößt, und schnipp …« – er schnippte tatsächlich mit den Fingern – »…
alles ist wieder da.«
»Glück? Zufall?«, hatte der Junge unglücklich gemurmelt und dabei den bandagierten Kopf geschüttelt. Er spürte die tröstende Hand des Arztes auf seiner Schulter.
»Jetzt sieh die Sache nicht so schwarz, Tim. Du bist deinem Schicksal nicht auf Gedeih und Verderb ausgeliefert – und übrigens haben Glück und Zufall dir Leben und Verstand gerettet. Benutze beides, um das Verlorene zurückzugewinnen.
Vielleicht musst du deinem Geist Höchstleistungen abverlangen, um die Amnesie zu besiegen. Den Versuch ist es allemal wert.«
Dem Arzt war sicher nicht bewusst gewesen, dass er mit dieser Äußerung eine Weiche in Tims Leben gestellt hatte. Für ihn klang der Trost wie eine Therapieanweisung. Den Geist zu Höchstleistungen
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