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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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würde er vielleicht noch leben. Ich kann nicht mehr, Emil. Nein, ich will nicht mehr.«
    »Soll das heißen, du möchtest aus dem Projekt aussteigen?«
    Sie nickte. »Ich glaube ja.«
    »Damit wäre die Gruppe auf einen Schlag um die Hälfte ihrer Mitglieder beraubt. Dir ist klar, was das bedeutet.«
    »Sie haben immer noch Justin und Tianna. Die beiden könnten den Grundstock für ein neues Team bilden. Aber ich…« JJ musste schlucken, weil es ihr die Kehle zuschnürte, wenn sie an die gemeinsame Zeit mit dem Mann ihrer Träume dachte, selbst wenn der überwiegende Teil dieser Zweisamkeit mit harter Arbeit angefüllt war. Sie schüttelte trotzig den Kopf.
    »In der Fabrik würde mich alles an Karim erinnern. Bitte, lassen Sie mich nach Yale zurückkehren.«

    »Du willst wieder in dein Institut?« Für einige lange Sekunden stand Kogan völlig reglos da. Dann begann er sacht zu nicken. »Möglicherweise habe ich die Sache falsch angepackt. Dieser Schnitt ist für uns alle bitter, aber er bietet uns die Gelegenheit zu einem Neubeginn. Ich werde das Projekt stoppen. Vorerst jedenfalls.«
    Sie nickte. »Danke, Emil.«
    Kogan zog sie erneut an sich und tätschelte ihren Kopf.
    »Arme, kleine Morgiane. Ich habe deinem Bruder versprechen müssen, auf dich aufzupassen. In deiner momentanen Verfassung kann ich dich nicht mit gutem Gewissen nach Yale zurückschicken. Was hältst du davon, mit mir für ein paar Wochen nach Fort Meade zu kommen? Dort beginnen wir ein neues Projekt, das ich dir gerne vorstellen würde. Oder eigentlich ist es ein uraltes, wenn man bedenkt, wie viele sich schon an diesem über hundertachtzig Jahre alten Rätsel die Zähne ausgebissen haben. Ziemlich geheimnisvoll, das Ganze.
    Es wird dich auf andere Gedanken bringen und passt auch viel besser zu einer Historikerin.«
    Jamila wischte sich mit dem Handrücken unter der Nase entlang. Sie war kaum fähig, klar zu denken. Aber vielleicht hatte er recht. Anstatt sich in dunklen Grübeleien zu verlieren, wäre wohl eine neue Herausforderung die beste Ablenkung.
    Und die Mysterien der Geschichte hatten sie schon immer mehr interessiert als die Welt des Cyberspace.
    »Ich möchte Karims Beisetzung nicht versäumen«, flüsterte sie.
    Kogan klopfte ihr aufmunternd auf den Rücken. »Das sollst du auch nicht, kleine Märchenfee. Und danach bringe ich dich nach Maryland.«
    ***
      
      
      

PHASE III

ERÖFFNUNG

    Gegenwart

    »Im Reiche der Wirklichkeit ist man nie so glücklich  
    wie im Reiche der Gedanken.«

    Arthur Schopenhauer
      

    Der König fiel wie in Zeitlupe. So jedenfalls nahm Tim Labin seinen Sieg über Gregorii Andrejewitsch wahr. Der russische Schachweltmeister erkannte mit dieser etwas aus der Mode gekommenen Geste seine Niederlage an. Damit hatte sich ein Außenseiter gegen den Champion durchgesetzt. Die Zuschauer waren hingerissen. Sie hatten an diesem Finalsonntag lange genug still sein müssen, um die miteinander ringenden Geister nicht zu stören. Jetzt tobte das Publikum im großen Ballsaal des Berliner Hotels Adlon.
    Andrejewitsch erhob sich, reichte dem neuen Weltmeister die Hand und sagte auf Russisch: »Gratulation, Herr Labin. Ich habe Ihre kometenhafte Karriere verfolgt. Irgendwie ahnte ich, dass Sie heute als Sieger den Saal verlassen würden.«
    Auch der deutsche Gewinner erhob sich, doch anstatt sich seinem Kontrahenten entgegenzubeugen, trat er einen Schritt zurück. Sein Russisch war ebenfalls perfekt. »Das nehme ich Ihnen nicht ab, Herr Andrejewitsch. Schach ist pure Psychologie. Hätten Sie mich als Gegner ernst genommen, dann wären Sie mit etwas Neuem gekommen, anstatt mit alten Zügen aus alten Partien gegen mich anzutreten.«
    Der Russe runzelte die Stirn. »Ach, kommen Sie, niemand kann sich sämtliche Züge aus sämtlichen Partien merken.«
    »Mir blieb gar nichts anderes übrig, denn als Stratege bin ich eigentlich nur Mittelmaß. Abgesehen von dem kleinen Unterschied, den Sie ja aus den Zeitungen kennen: Ich bin der Mann, der nichts vergessen kann.«
    Ohne die Hand des Verlierers zu schütteln, wandte sich Tim Labin um und verließ die Bühne. Ein wahres Blitzlichtgewitter verewigte diesen Affront auf einem Arsenal von Digitalspeichern. Der Händedruck nach dem Spiel gehörte zur Etikette des königlichen Spiels. Nicht nur bei der im Ballsaal versammelten Presseschar begannen sofort die Spekulationen.

    Hatte der Verlierer den Sieger beleidigt? Konnte Andrejewitsch es nicht verwinden, dass die

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