Der Mann, der nichts vergessen konnte
anspornen? Wie ein Weitspringer, der sich mit hartem Training Zentimeter für Zentimeter zum Weltrekord vorarbeitet? Das musste doch zu schaffen sein.
Tim hatte den Blick gesenkt und staunend den Umschlag des Buches betrachtet. Ja, er konnte alles darauf lesen. Es kam aus dem Ost-Berliner Sportverlag. Der Autor trug den russisch klingenden Namen Michail Schereschewski, und sein Werk hatte den Titel Strategie der Schachendspiele.
Obwohl oder gerade weil Tim den Namen jenes unbekannten Besuchers nie erfahren hatte, begann er sich intensiv mit seinem Geschenk zu beschäftigen. Das Büchlein umfasste nicht einmal zweihundert Seiten, und es war auch alles andere als ein Anfängerkurs im Schach. Wie der Titel schon erkennen ließ, widmete es sich dem Denken und Planen in der nervenaufreibenden letzten Runde eines Schachturniers: Überstürze nichts! Denke in Schemata! Kämpfe um die Initiative! Vermeide das feindliche Gegenspiel! Beachte das Prinzip zweier Schwächen! Es waren die Quintessenzen der Strategie und Taktik des königlichen Spiels, die der Namenlose Tim hinterlassen hatte. Aber wozu, wenn er doch wusste, dass der Patient nach Menschenermessen niemals genesen würde?
Dieser Widerspruch war für Tim eine Herausforderung und wie die »Erinnerungstherapie« des Arztes noch zusätzlicher Ansporn gewesen. Mit einer Geschwindigkeit, die ihn anfangs erschreckte, hatte er das Buch gelesen und sich gewundert, dass er kein einziges Wort vergaß. Um alles zu verstehen, brauchte er allerdings wesentlich länger.
Eine Zeit lang ließ er sich stapelweise Schachbücher ins Krankenhaus bringen und verschlang diese mit dem Appetit eines Verhungernden. Irgendwann schenkte ihm der Arzt Figuren und ein Spielbrett, und von da an forderte Tim jeden zu einer Partie heraus, der sein Zimmer betrat.
Das Lesen und Spielen gab er auch in den verschiedenen Rehakliniken nicht auf, die er anschließend durchlief.
Allmählich wurde die Beschäftigung mit dem königlichen Spiel zu einer Besessenheit. Wenn er seinen Geist mit jenem der Großmeister messen könnte, ihn gleichsam zu gleißendem Licht entfachte, dann würde er eines Tages damit auch bis auf den dunklen Grund seiner Erinnerungen leuchten können.
Nach anderthalb Jahren war Tim als geheilt entlassen worden.
Er träumte davon, eines Tages der beste Schachspieler der Welt zu werden. Nun war er am Ziel.
Aber sein Sieg bedeutete ihm nichts. Er war für ihn nur ein Meilenstein auf dem schon seit vielen Jahren beschrittenen Weg.
Die Nacht des Infernos hatte ihn auf vielerlei Weise verändert. Es schien, als habe das Feuer seine Epilepsie weggebrannt. Und aus ihrer Asche hatte sich, einem Phönix gleich, etwas ganz Neues erhoben. Tim war ein Savant geworden – ein »Wissender«. Weniger als dreihundert Menschen auf der ganzen Erde gehörten zur Gruppe dieser sogenannten »Inselbegabten«. Viele davon litten unter Autismus oder waren in anderer Form psychisch eingeschränkt. Im Vergleich zu ihnen hatte Tim ein leichteres Los gezogen. Und in einer Beziehung war er sogar einzigartig: Er besaß die Gabe der vollkommenen Erinnerung.
Darüber hinaus verfügte er noch über vielfältige andere Begabungen. Unter anderem besaß er vier Doktortitel und spielte ein Dutzend Musikinstrumente. Einige seiner Talente waren den Ärzten bereits im Laufe der Genesung aufgefallen, so etwa seine innovative Art zu lesen. Er »scannte«
gewissermaßen in einem aufgeschlagenen Buch jede Seite mit einem anderen Auge. Sein dieserart verdoppelter Blick brauchte nur über die Seiten hinwegzuwischen, und der Inhalt des Werks brannte sich unauslöschlich seinem Gedächtnis ein.
Um auf diese Weise einen Fünfhundert-Seiten-Wälzer zu memorieren, brauchte er etwa eine Stunde.
In mancher Hinsicht war Tim ein Geistesriese, und nicht selten in den vergangenen neunzehn Jahren hatte er sich von Liliputanern umzingelt gefühlt, die ihn allzu gerne mit ihren Stricken in die Horizontale beförderten, um ihn nach allen Regeln der Kunst zu studieren. Abgesehen von ein paar Hunden und Affen in der Erdumlaufbahn war er zweifellos das meist gereiste Versuchskaninchen der
Wissenschaftsgeschichte. Sein Gehirn wurde auf jede erdenkliche Weise untersucht. Röntgenstrahlen zählten da noch zu den antiquierten Methoden der frühen Jahre. Manche der neueren bildgebenden Verfahren klangen wie reinste Science-Fiction: Die Forscher setzten ihn bei der Kernspintomographie magnetischen Feldern aus, injizierten ihm für die
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