Der Mann, der nichts vergessen konnte
Positronen-Emissions-Tomographie radioaktiv markierte Substanzen, maßen mithilfe des Diffusion Tensor Imaging die Verteilung von Wasserstoffmolekülen und Nervenfaserverbindungen und beobachteten, welche Gedanken in seinem Kopf welche Neuronen aktivierten. Mittlerweile war sein Gehirn per Internet weltweit scheibchenweise und dreidimensional abrufbar – in Millimeterauflösung!
Der von seinen Bewunderern »Timputer« genannte Champion hatte vor einigen Monaten den leistungsfähigsten Schachcomputer der Welt geschlagen. Er selbst scheute den Vergleich mit Meistern wie Wladimir Kramnik, der kurz zuvor von der Maschine besiegt worden war. In anderen Disziplinen fühlte er sich da schon souveräner, etwa beim Beantworten kniffliger Quizfragen in Fernsehshows, beim Lösen kompliziertester Rechenaufgaben oder beim Erlernen neuer Sprachen. Für Chinesisch hatte er eine Woche gebraucht; ein paar Tage später waren auch die etwa vierzigtausend Schriftzeichen verinnerlicht.
Gewöhnlich bestaunten die Menschen Tims phänomenale Geistesleistungen, er dagegen betrachtete sie eher als Fluch.
Manchmal wünschte er sich, eine schmerzliche Erfahrung loslassen zu können. Er sah im Vergessen eine natürliche Funktion, mit der das Gehirn Wichtiges von Belanglosem trennt und seinen Besitzer vor unangenehmen Erinnerungen schützt. Ihm war die Gnade des Vergessens nicht vergönnt.
An meisten litt Tim unter der Vorstellung, den Tod seiner Eltern verschuldet zu haben. Die dramatischen Vorfälle in jener Nacht, als die Berliner Mauer fiel, vermischten sich in seinem Kopf unentwirrbar mit den Schilderungen seiner Adoptiveltern, den Labins. So oft hatten sie ihm ihre Geschichte erzählt, dass es schließlich die seine geworden war, Wirklichkeit und Legende verschmolzen zu einem monolithischen schwarzen Block, der ihm Albträume und Schuldgefühle bescherte. Hatte er tatsächlich einen Streit unter seinen Eltern heraufbeschworen, der in einem Blutbad endete?
Hatte er gezündelt, während sie mit Küchenmessern aufeinander losgingen? Er traute diesen Ersatzerinnerungen nicht. Ihretwegen gönnte er seinem Geist niemals Ruhe.
Der Große Ballsaal lag endlich hinter ihm. Wie ein gehetztes Wild eilte Tim durch das Foyer. Um sich nicht durch eine Menschenansammlung zwängen zu müssen, wählte er den Umweg über den Großen Wintergarten. Beim allzu forschen Betreten desselben stieß er mit einer Angestellten zusammen, die ein Tablett mit Silberbesteck vor sich hertrug.
Tim brüllte vor Schreck, weil die überraschende Fühlungnahme mit einem anderen menschlichen Wesen sein Herz fast zum Explodieren brachte. Die junge Frau – sie war wohl nicht einmal zwanzig, hatte schwarze Locken und südländische Gesichtszüge – schrie ebenfalls. Zwischen den beiden schepperte das Besteck zu Boden. Entsetzt wich Tim zurück und beruhigte sich erst wieder, nachdem er seinen unsichtbaren Bannkreis wiederhergestellt hatte.
Das Mädchen stammelte eine Entschuldigung, es sei nur Auszubildende und noch etwas ungeschickt. Sichtlich verlegen machte es sich ans Auflesen der Messer, Gabeln und Löffel.
»Nicht so schlimm«, murmelte Tim, obwohl ihm der Schreck noch in den Gliedern saß und er am ganzen Leib zitterte.
Die Auszubildende stöhnte leise. »Jetzt darf ich die hundert Dinger noch mal polieren!«
»Da kann ich Sie beruhigen. Es sind nur fünfundneunzig.«
Die junge Frau blickte überrascht auf. »Sie meinen sechsundneunzig, zwölf Gedecke, bestehend aus je…«
»Tut mir leid«, unterbrach er sie und deutete auf das am Boden verstreute Besteck. »Da liegen zwar je vierundzwanzig große Messer und Gabeln, außerdem zwölf Dessertlöffel und -
gabeln sowie auch zwölf Suppenlöffel, aber von den Brotmessern sind nur elf da.«
»Und das haben Sie trotz Ihres Geschreis mit nur einem Blick erfasst?«
Er zuckte die Achseln. »Ich kann nichts dafür. Es passiert einfach.«
Sie erhob sich und musterte ihn mit einem kecken Lächeln von oben bis unten. Ehe er reagieren konnte, trat sie mit drei schnellen Schritten zu ihm heran, bückte sich und angelte ihm ein kleines Messer aus dem Umschlag des rechten Hosenbeins.
Rasch ging sie wieder auf Distanz und zeigte ihm triumphierend ihr Beutestück.
»Das haben Sie übersehen, mein Herr. Ich hatte recht. Es sind sechsundneunzig Besteckteile, die ich noch mal putzen darf.«
Jetzt musste auch Tim schmunzeln. Er zückte die Brieftasche, zog einen Zwanzig-Euro-Schein heraus und legte ihn ihr aufs Tablett.
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