Der Mann, der nichts vergessen konnte
»Touche, junge Dame. Sie haben mich besiegt.
Nehmen Sie das Geld als Preis. Und als kleines Trostpflaster für die doppelte Arbeit.«
Während sie noch ein überraschtes Dankeschön murmelte, hatte er sich bereits von ihr abgewandt und setzte die Durchquerung des Wintergartens fort. Ohne weitere Zwischenfälle erreichte er die Lobby.
Tim war für die Dauer der Weltmeisterschaft ins Adlon umgezogen und dachte nur noch daran, die Tür seiner Suite hinter sich zu schließen. Vor Beginn der offiziellen Pressekonferenz brauchte er dringend Ruhe. Nicht unbedingt jenen Standby-Modus, mit dem Gestresste üblicherweise Körper und Geist zu regenerieren suchten. Er sehnte sich schlicht nach der Stille eines menschenleeren Raums und der Lektüre eines guten Buches. Oder vielleicht genehmigte er sich auch zwei.
Ehe er dieses Bedürfnis jedoch stillen konnte, musste er in der Hotelhalle einen schwierigen Parcours aus Touristen, Geschäftsleuten, Sesseln und Tischen meistern. In einem irren Zickzackkurs nahm er fehlerfrei alle Hindernisse, bis plötzlich, er unterquerte gerade das farbige, runde Oberlicht, eine glockenhelle Stimme von der Rezeption ihn patzen ließ.
»Einen Moment bitte, Herr Labin.«
Wie ein Knüppel, den man ihm zwischen die Beine geworfen hatte, brachte ihn der Ruf beinahe zu Fall. Stolpernd kam er zum Stehen, stöhnte leise und wandte sich dem Tresen zu.
»Ja?«
Eine junge blonde Frau in dunkler Uniform lächelte ihm so formvollendet zu, wie man es wohl nur in einer Hotelfachschule lernen konnte. »Wie läuft’s mit dem Turnier, Herr Labin?«
Tims Nacken versteifte sich. Seine Augen sondierten die Umgebung. Meist genügte ihm ein einziger Blick, um die exakte Anzahl einer Menge von etwas X-Beliebigem zu bestimmen. Die Lobby war voller Ohren – sechsundvierzig, um genau zu sein. Eine falsche Antwort, und dreiundzwanzig Autogrammjäger würden über ihn herfallen. Das wäre sein Ende. Der Selbsterhaltungstrieb zwang ihn, sich der neugierigen Person hinter dem Tresen zu nähern. Sie war in seinem Alter, also ungefähr achtundzwanzig. Er memorierte ihren Namen: Naomi Zierenberg. Fünfzehn Buchstaben.
Sieben Vokale.
»Es ist aus«, erwiderte er einsilbig.
»Und?«
»Was und?« Das Stimmengemurmel in der Empfangshalle verdichtete sich in seinem Kopf zu einem schwindelerregenden Singsang. Er wollte nur weg von hier.
Die Rezeptionistin ließ sich von seiner Ungeduld nicht beeindrucken. »Wie ist es ausgegangen?«
»Ich habe gewonnen.«
Ihr professionelles Lächeln bekam eine strahlende, fast schon private Note. »Gratulation zur Weltmeisterschaft, Herr Labin.«
»Der Titel interessiert mich nicht«, brummte er.
»Oh? Warum sind Sie dann angetreten?«
»Weil mich die Herausforderung gereizt hat. Aber Wiederholungen langweilen mich nur. Albert Einstein meinte mal: ›Wer nie einen Fehler gemacht hat, hat nie etwas Neues ausprobiert Ergo kann nur derjenige perfekt werden, der keine Herausforderung scheut.«
»Einstein?«, murmelte die Empfangsdame. »Sie meinen den Besitzer des gleichnamigen Cafes drüben auf der anderen Seite der Straße?«
Er schloss die Augen und atmete tief durch, um die latente Panik zu unterdrücken. »Frau Zierenberg«, sagte er, so ruhig es ihm seine Verfassung erlaubte, und sah erst danach die Rezeptionistin wieder an, »halten Sie mich nur auf, um mit mir über Schach zu plaudern?«
Ihr Lächeln schien jäh zu erstarren. Es war zwar noch vorhanden, wirkte auf dem recht hübschen Gesicht aber mit einem Mal unvorteilhaft spröde. »Nein. Entschuldigen Sie bitte die Störung, Herr Labin. Da ist Post für Sie gekommen. Einen Moment bitte.« Die Frau mit den sieben Vokalen und acht Konsonanten zog sich zurück.
Tim hasste es, so griesgrämig zu sein. Noch mehr hasste er es allerdings, tatenlos dazustehen und zu warten. Er brauchte ständig »Hirnfutter«, sonst litt er unter mentaler Unterzuckerung, was ihn genauso zappelig und unleidlich machte wie einen Diabetiker, dem es an Kohlenhydraten mangelte. Sein hungriger Blick erspähte einige Gazetten, die eine fleißige Seele fächerförmig auf dem Tresen drapiert hatte.
Zuoberst lag die Europaausgabe der International Herald Tribune. Wie magnetisch wurden Tims Augen von einem kleinen Farbfoto unter dem Zeitungskopf angezogen. Es zeigte eine orientalische Schönheit. Rechts daneben stand in fetten Lettern: »Rosewood Files«: New disclosures.
Solche »neue Enthüllungen« über die sogenannten »Rosenholz-Dateien« waren
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