Der Mann, der nichts vergessen konnte
der »Abteilung für Auswertung/Information« – arbeitenden Labins allen Ernstes der Spionage verdächtigt.
Rein verstandesmäßig war Tim nach dem Studium von gut zwei Dutzend an einem Wochenende memorierten Fachbüchern überzeugt, dass es sich bei dieser Anschuldigung nur um den typischen Reflex totalitärer Regime handelte: Wer in irgendeiner Weise auffällt, arbeitet für den Feind.
Nach seiner Einschätzung waren die Indizien für die ungeheuerlichen Bezichtigungen mehr als dürftig. Er hatte Abhörprotokolle gelesen, Observationsberichte, an den russischen KGB gerichtete Amtshilfeersuchen und jede Menge abstruser Analysen. Tatsächlich schienen seine Eltern an ihrem Arbeitsplatz irgendwelche privaten Nachforschungen betrieben zu haben. Es gab jedoch keinerlei Anhaltspunkte, dass Dokumente entwendet worden waren. Ganz im Gegenteil hatten sie, sofern die Faktenlage stimmte, dem Archiv irgendwelche Unterlagen hinzugefügt. Der für die Labins zuständige Offizier der Spionageabwehr hatte dahinter den Sabotageakt eines ausländischen Geheimdienstes gewittert, vielleicht des israelischen Mossad, denn die Familie sei ja jüdischer Abstammung.
Die teils hanebüchenen Spekulationen und Anschuldigungen hatten Tims Seelenlage nicht unbedingt stabilisiert, sondern ihn eher dazu angestachelt, seinen Geist wie einen Wetterballon in immer höhere Regionen aufsteigen zu lassen.
Dort oben, gewissermaßen in der Stratosphäre menschlichen Denkens, hoffte er, den fehlenden Erinnerungsschnipsel zu finden, der ihm am 9. November 1989 entrissen worden war.
Vielleicht, so dachte er nach wie vor, würden dann die Schuldgefühle in den leeren Raum zwischen den Sternen entschwinden und sich all die obskuren Schauergeschichten über seine Eltern ganz von allein aufklären.
»… alles in Ordnung, Herr Labin?«
Tim blinzelte. Es dauerte einen Moment, aus der Versunkenheit in die Gegenwart zurückzukehren. Abermals sah er sich dem professionellen Lächeln jener jungen Dame mit den fünfzehn Buchstaben ausgesetzt. »Mir geht es gut«, schwindelte er. »Haben Sie die Post gefunden?«
»Ja. Bitte entschuldigen Sie, dass es so lange gedauert hat.
Jemand hat sie falsch abgelegt.« Die Rezeptionistin reichte einen Umschlag über den Tresen.
Tim ersparte sich die Frage, ob besagter Jemand zufällig den Physiker Albert Einstein für einen Berliner Cafehausbesitzer hielt. Stattdessen nahm er das Kuvert entgegen, bedankte sich mit einem kleinen Nicken und setzte die Flucht in sein Refugium fort.
Unterwegs schaltete er das Handy ein. Er hatte es vor dem Finalkampf deaktiviert, weil bei großen Schachturnieren diesbezüglich strenge Regeln galten – wenn das Mobiltelefon eines Spielers klingelte, ging die Runde an den Gegner. Nun jedoch durfte er sich wieder mit der Welt verbinden. Ihm war dieses Gefühl wichtig, obgleich nur sein Agent und wenige andere Menschen seine Rufnummer besaßen. Für ihn persönlich war die Erfindung des Telefons eine der größten Errungenschaften des Homo sapiens, weil dadurch Menschen miteinander kommunizieren konnten, ohne sich die Hände schütteln zu müssen.
Während sich sein Gerät ins Netz einklinkte, durchquerte er das Treppenhaus. Die Benutzung des Fahrstuhls stand für ihn außer Frage, nicht aus sportlichen Erwägungen, sondern aus klaustrophobischen – er litt unter Platzangst. Das große Nervenflattern blieb ihm trotzdem nicht erspart, als er das dritte Stockwerk betrat, wo ihm eine Gruppe aufgeregt diskutierender Geschäftsreisender aus Japan den Weg verstellte. An ein Vorbeikommen ohne Körperkontakt war überhaupt nicht zu denken. Obgleich er ihrer Sprache mächtig war, stand ihm nicht der Sinn nach einem Wortwechsel.
Aus sicherem Abstand verfolgte er die Debatte. Es ging um die Frage, ob die japanische Gesellschaft zunächst ein deutsches Restaurant besuchen und nachher das Brandenburger Tor fotografieren wolle oder andersherum. Er sah sich hilfeheischend um und erschrak, weil hinter ihm – innerhalb der Toleranzzone! – eine Gestalt stand: Ein schlanker, fast schlaksiger Endzwanziger mit knöchern wirkendem Gesicht, langer, leicht gebogener Nase, unverhältnismäßig vollen Lippen, gewelltem vollem schwarzem Haar und erschrocken blickenden blauen Augen. Alles andere als hässlich – er sah aus wie der Schachweltmeister Tim Labin.
Es war sein eigenes Spiegelbild.
Er entspannte sich wieder.
Nach etwa zehn Minuten fand das asiatische Verhandlungsteam im Flur einen Konsens (man
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