Der Mann, der nichts vergessen konnte
in den letzten Jahren immer wieder durch die Presse gegeistert, und jedes Mal hatten sie Tim einen Schauer über den Rücken gejagt. Dafür gab es, wie noch zu berichten sein wird, gute Gründe, und sein Geburtsname, Rosenholz, war nur einer davon.
Auch jetzt spürte er dieses Unbehagen. Es ging mit einem inneren Funkengewitter einher, das ihn immer dann heimsuchte, wenn seine Sinneswahrnehmungen im Gehirn auf ähnliche Eindrücke aus der Vergangenheit trafen. Manchmal formten sich aus solchen deckungsgleichen Mustern sofort klare Bilder, dann wieder sah er nur aufblitzende Mosaiksteinchen, ohne sie in eine sinnvolle Anordnung bringen zu können. So war es auch jetzt. Weder Ärzte noch Forscher, denen er diese Kapriolen seines Geistes je geschildert hatte, konnten sie nachvollziehen. Aber was bedeutete das schon? Es gab ja nur einen Mann, der nichts vergessen konnte, nur einen Tim Labin.
Er fixierte die Zeile unter dem Fettgedruckten. Stasi-Unterlagen könnten zur Entschlüsselung der legendären Beale-Chiffre beitragen, hieß es da. Er hatte nie etwas von dieser geheimen Schrift gehört, doch allein die Erwähnung von Dokumenten des MfS – des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR – weckte sein Interesse. Rasch blätterte er um.
Der Artikel war kurz. Tim las ihn nicht, sondern er saugte ihn förmlich in sich auf. Nach einer Zeitspanne, die gewöhnliche Menschen zum Anvisieren und Abfotografieren der Seite benötigt hätten, war der Text seinem nimmersatten Gedächtnis einverleibt.
New Haven, Connecticut: Die Beale-Chiffre ist 186 Jahre alt und wohl die berühmteste Geheimbotschaft der Welt. Bisher konnte sie nur zu einem Drittel entziffert werden und hat bis heute die Fantasie zahlloser Schatzsucher angeregt. Sie wurde von einem amerikanischen Glücksritter namens Thomas Jefferson Beale verfasst. Darin habe er die genaue Lage eines millionenschweren Schatzes angegeben, teilte er einem Vertrauten mit. Danach verschwand Beale spurlos, ohne je den Schlüssel zur Dechiffrierung seines Vermächtnisses herauszurücken. Dessen Enträtselung ist bis heute niemandem gelungen, abgesehen von einem schon Ende des 19. Jahrhunderts entzifferten Blatt. Nun jedoch könnte ausgerechnet eine Historikerin all die gescheiterten Kryptologen und Mathematiker übertrumpfen.
Im Rahmen einer Pressekonferenz auf dem Campus der Yale-Universität gewährte Dr. Jason (29, siehe Foto) den versammelten Journalisten erstmals Einblick in ihr faszinierendes Forschungsprojekt. Als erste Nicht-CIA-Angehörige hatte sie in die bisher unveröffentlichten Teile der sogenannten »Rosenholz«-Dateien Einblick nehmen dürfen (wir haben in früheren Artikeln ausführlich über diese vom CIA erbeuteten Stasi-Geheimdokumente berichtet). Das nun gesichtete Material könnte der Wissenschaftlerin zufolge die Beale-Chiffre entschlüsseln helfen. Einiges weise daraufhin, dass der Klartext hochexplosiv sei, sagte Jason. Die Entstehung und der Inhalt der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika könnte dadurch in ein völlig neues Licht gerückt werden. Auf den Top-secret-Status der Geheimakten verweisend, wollte die Wissenschaftlerin nur so viel verraten: »Wir haben in den Rosenholz-Dateien die Enden einiger ziemlich alter Fäden gefunden, die bis in die Zeit und das persönliche Umfeld von Thomas J. Beale zurückreichen.
Sobald die zuständigen Regierungsstellen der Offenlegung des Materials zugestimmt haben, dürfen Sie wiederkommen und staunen.« Wir sind gespannt, mit welchen Enthüllungen uns die ebenso intelligente wie attraktive Wissenschaftlerin in Zukunft überraschen wird.
Tim kannte so ziemlich alle Veröffentlichungen über die CIA-Operation, in deren Verlauf irgendwann zwischen 1989 und 1993 hochbrisante Daten aus der »Hauptverwaltung Aufklärung (HV A)«, dem Auslandsspionagedienst der DDR, in die Vereinigten Staaten gelangt waren. Aber das Studium der Berichte hatte den finsteren Abgrund seiner verschütteten Erinnerungen nicht erhellt.
Ähnlich war es, nachdem er sich in der Stasi-Unterlagen-Behörde die »Akte Labin« hatte vorlegen lassen. Zu dieser Zeit war die DDR längst der Bundesrepublik Deutschland beigetreten und er bei seinen Adoptiveltern ausgezogen. Das von den Stasi-Spitzeln über seine Familie zusammengetragene Dossier hatte mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Im ersten Moment war die Lektüre für ihn ein Schock gewesen.
Das MfS hatte die im Archiv des Referats 7 der HVA –
Weitere Kostenlose Bücher