Der Mann, der nichts vergessen konnte
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»Siebenhundertdreiundsechzig Zahlen. Eintausendachthun-dertdreiunddreißig Ziffern«, murmelte er und steckte die beiden Blätter in den Umschlag zurück. Nun hätte er den Brief verbrennen können, denn er war Buchstabe für Buchstabe und Ziffer für Ziffer in seinem Gedächtnis gespeichert. Jederzeit abrufbar. Unvergessbar.
Nur die Bedeutung kannte Tim nicht. Wie sollte er auch?
Von Kryptographie hatte er keine Ahnung.
Selten war der Unterschied zwischen Wissen und Verstehen für ihn so greifbar gewesen wie in diesem Moment. Aber gerade deshalb reizte ihn die Herausforderung. Zumal er im Hintergrund seines Bewusstseins ein schwaches Funkeln wahrnahm. Irgendetwas an diesem verwirrenden Zahlenrätsel passte zu den in seinem Gedächtnis abgelegten Mustern. Er schüttelte den Kopf. Das musste man diesem Zircon Afsahi lassen: Er hatte wirklich einen guten Riecher für Timing. Vor der Schachweltmeisterschaft hätte er dem Titelaspiranten mit der ominösen Botschaft wohl nur ein müdes Lächeln abgenötigt. Aber jetzt war Tim schon wieder hungrig.
Und wenn an der Warnung doch etwas dran ist?
Ach was! Wäre die Botschaft tatsächlich so gefährlich, dann hätte der Professor sie nicht der Post anvertraut. Tim ignorierte das Grummeln im Magen. Er wollte das Rätsel ergründen.
Aber wie, wenn er doch kein Kryptologe war?
Haben Sie je Ihre Grenzen ausgelotet? Ich kann Sie dorthin führen.
Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen, und er flüsterte:
»Was nicht ist, kann ja noch werden.«
Tim liebte Büchereien. Alles stand hier in Reih und Glied.
Die schmerzliche Lücke in seiner sonst so vollkommenen Erinnerung hatte er zwar auch an solchen Horten des Wissens niemals schließen können, aber gewöhnlich verschaffte ihm die Überflutung mit den geistigen Ergüssen großer Denker und Forscher wenigstens die wohlige Illusion des Vergessens, weil sie ihn für einige Stunden vom blinden Fleck seines Gedächtnisses ablenkte. Um seine Stimmung war es daher bestens bestellt, als er am Montagmorgen mit dem Taxi zur Amerika-Gedenkbibliothek nach Kreuzberg fuhr.
Als er auf dem Blücherplatz aus dem Wagen stieg, streifte sein Blick einen Imbiss-Stand. Er überlegte, ob er sich für den Tag noch etwas Proviant besorgen sollte. Da Lebens- und Lesemittel nach Ansicht der meisten Bibliothekare aber nicht gut miteinander harmonierten, entschied er sich dagegen.
Auf dem Weg zum Haupteingang musste er an einem Bettler mit Leidensmiene vorbei, der, nur von einer zusammengelegten Decke vor der Kälte geschützt, auf dem Bürgersteig kauerte. Er trug einen zerschlissenen Wintermantel. Vor ihm lag eine Mütze mit ein paar Münzen drin. In der Hand hielt er ein mehr schlecht als recht gekritzeltes Pappschild, dessen Aufschrift Tim ein Schmunzeln entlockte:
Ich hätt’ so gern ‘ne Currywurst! Bitte eine kleine Spende für den großen Hunger.
Tim holte sein Portemonnaie hervor, schüttete sich das Kleingeld in die hohle Hand und gab eine wohldosierte Menge davon in die Mütze.
»Wat soll det denn?«, grunzte der Bettler.
»Siebzehn Cent«, antwortete Tim freundlich.
Die zerlumpte Gestalt schnaubte. »Da haste dir aber mächtig een abjebrochen, wa?«
»Ein Danke hätte völlig genügt.« Tim steckte seinen Geldbeutel in den Mantel zurück und wollte sich zum Gehen wenden, aber der Clochard war noch nicht fertig mit ihm.
»Wat denn? Du machst dir über mir lustich, und ick soll mir noch dafür bedanken? Dir ham se wohl ins Jehirn geschissen.
Weeste überhaupt, wie anstrengend der Joob hier is? Und du jibst ma siebzehn Cent! Wat soll ick denn damit?«
Tim deutete auf das Pappschild. »Na, eine Currywurst kaufen. An der Bude da drüben kostet sie ein Euro zehn. Sie haben dreiundneunzig Cent im Hut…«
»Und det harn Se so im Vorbeijehn festgestellt? Verscheißern kann ick ma aleene.«
»Mit meinen siebzehn reicht das genau, um satt zu werden«, beendete Tim die Berechnung des Spendenaufkommens und verabschiedete sich.
Diesmal gelang es ihm, dem Stadtstreicher zu entkommen, weil der viel zu verblüfft war, um noch etwas zu sagen. Es stimmte: In seiner Mütze lag der genaue Gegenwert für eine Currywurst.
Pünktlich zu der Öffnung um zehn Uhr betrat Tim die sechsgeschossige, wie ein langer Bogen vor dem Landwehrkanal liegende Zweigstelle der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Er schätzte sie besonders wegen ihrer sofortigen Verfügbarkeit von Zigtausenden Büchern. Nachdem ein Werk im Katalog ausgewählt war,
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