Der Mann, der nichts vergessen konnte
keinerlei Beweise für die Geschichtlichkeit unseres Helden. Wo haben Sie seine ›Beichte‹ ausgegraben?«
»Aus Beales Testament.«
Tim stutzte. »Ich denke, es gibt nur ein Vermächtnis – die drei Chiffren.«
»Ich bin bei dem Studium streng geheimer Unterlagen auf einen später datierten letzten Willen Beales gestoßen. Sagt Ihnen der Begriff ›Rosenholz-Dateien‹ etwas?«
»Und ob! Die Presse hat ja ausführlich darüber berichtet. Bis heute konnte mir allerdings niemand sagen, woher dieser Name stammt.«
»Rosenholz? Da kann ich Ihnen leider auch nicht weiterhelfen.«
»Schade. Es heißt, die CIA hätte Ihnen auch Einblicke in Dokumente gewährt, die noch nicht an die Bundesrepublik Deutschland zurückgegeben wurden.«
»Das ist korrekt, wenngleich ich auch nur kopierte Auszüge des Materials zu sehen bekam, sozusagen ein großes, unvollständiges Puzzle, aus dem ich ein schlüssiges Bild zusammenzusetzen versuchte.«
»Einige öffentlich zugängliche Quellen beschreiben die Rosenholz-Dateien nur als Liste, in der die Namen eines Agentennetzwerkes stehen. Wie passt das zusammen?«
»Genau genommen handelt es sich um die mikroverfllmten Karteien der Hauptverwaltung Aufklärung, also der Spionage-Abteilung des Ministeriums für Staatssicherheit. Einige Karten enthalten jedoch Verweise auf andere Fundstellen – so bin ich auf Beales zweites Vermächtnis gestoßen.«
»Tut mir leid, aber das verstehe ich immer noch nicht. Was hat Beale mit DDR-Spionen zu tun?«
»Uns fiel auf, dass einige der in den Karteikarten erfassten Personen gestorben sind, lange bevor die DDR überhaupt gegründet wurde. Das große Los zogen wir bei einem gewissen Amos A. Bethel. Es ist ein Allonym von Thomas Beale, genauer gesagt ein Anagramm.«
»Eine Buchstabenumstellung?«, murmelte Tim verblüfft. Im Nu kombinierte er im Geist aus dem Namen des Abenteurers alle möglichen anderen Wörter zusammen.
»Es kommt noch besser«, sagte JJ. »Beale ist 1822 ›vor den reaktionären Feinden der Revolution‹, wie es in einem Schriftstück heißt, ›nach Hessen entkommen‹. Vor seiner Fahnenflucht hatte er als britischer Soldat Seite an Seite mit den ›Hessians‹ gekämpft, Söldnern aus allen möglichen deutschen Landen. Aus der Kameradschaft entstanden Verbindungen, die ihm nun weiterhalfen. Von Frankfurt ging er nach Berlin, wo er sich unter dem jüdisch klingenden Namen Amos Bethel niederließ.«
»Warum hätte er sich den antisemitischen Anfeindungen aussetzen sollen, die schon damals in Deutschland blühten?«
»Vielleicht, weil sein wohl engster Vertrauter in Deutschland ein Jude war. Ich könnte mir aber auch denken, dass ihm eine gesellschaftliche Randgruppe, deren Leben sich hauptsächlich unter ihresgleichen abspielte, als ideales Versteck vor seinen Häschern erschien.«
»Klingt plausibel. Könnte das Anagramm nicht aber auch ein Zufall sein?«
»Im Prinzip schon, wenn Amos Bethel sich nicht in seinem zweiten und wohl letzten Vermächtnis – er muss inzwischen fast siebzig gewesen sein – als Thomas Jefferson Beale zu erkennen gegeben hätte. Auch die drei chiffrierten Blätter, die er Robert Morriss anvertraut hat, werden darin erwähnt. Wir vermuten, dass die Staatssicherheit der DDR die Brisanz des Dokuments zwar erkannt, aber damit nichts Konkretes anzufangen gewusst hatte. So gelangte das Testament ins Archiv und der Verweis darauf später in die Rosenholz-Dateien. Aus all diesen Puzzleteilchen habe ich dann die inzwischen hinlänglich bekannte These zusammengesetzt.«
»Alle Achtung! Ich muss wohl meinen ersten Eindruck von Ihrer Theorie revidieren. Jetzt mal unter uns: Falls ich die beiden anderen Blätter der Beale-Chiffre entziffern kann, was werden wir entdecken, abgesehen von dem Schatz, meine ich?«
»Dokumente. Irgendwelche Papiere, die Beales Andeutung über die Unabhängigkeitserklärung konkretisieren. Vielleicht sogar ihren Urtext.«
»Und was steht da Ihrer Meinung nach drin?«
»Etwas, das mit den bisher bekannten historischen Fakten harmoniert. Die Amerikanische Revolution ist ja, auch wenn Patrioten und Politiker in meiner Heimat das nur ungern hören, nicht in erster Linie der heroische Freiheitskampf des einfachen Mannes von der Straße gewesen, der sich von der britischen Krone lossagt und seine Menschenrechte einfordert.«
»Sondern?«
JJ lächelte müde. »In Wahrheit wollten die gemäßigten Stimmen um Joseph Galloway noch nach dem ersten Kontinentalkongress den
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