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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Neben dem Lesestoff lag ihr auch sein leibliches Wohl am Herzen, weil er dazu neigte, über dem Memorieren das Essen und Trinken zu vergessen. Seinen Ansprüchen in puncto Ordnung zu genügen, gab sie hingegen bald auf und lud die von ihr herbeigeschleppten Bände und Akten nur noch vor ihm ab. Er verteilte die Fracht dann auf dem Tisch nach einem System, das auf Maximierung rechter Winkel ausgelegt war.
    Ohne jegliche Messhilfen erzielte er dabei eine fast schon magische Präzision.
    JJ erduldete seine Marotten, die bisweilen täppischen Umgangsformen wie auch sein Unvermögen, Gedachtes von Gesprochenem zu trennen, mit stoischer Gelassenheit. Und wenn er wieder einmal ein Buch durchgearbeitet hatte, hinterfragte sie kritisch seine Eindrücke.
    Die vielen Stunden, die das Gespann so miteinander verbrachte, veränderten Tim. Schon bei JJs erstem Händedruck war das Gefühl der Panik ausgeblieben, das ihn sonst immer befiel, wenn eine fremde Person ihm allzu dicht auf die Pelle rückte. Er hatte nur eine Erklärung dafür: Es gab Gefühle, die stärker als seine Ängste waren, und Jamila Jason vermochte diese in ihm zu wecken. Je länger sie zusammenarbeiteten, desto mehr verblasste sogar das leichte Unbehagen, das ihre Berührung ihm anfänglich bereitet hatte. Ja, er begann sich sogar nach den kleinen Momenten der Nähe zu sehnen, etwa wenn sie ihm einen Tee brachte und ihr Ärmel ihn streifte, wenn sie ihm etwas in einer Publikation zeigte, sich dabei über ihn beugte und ihr samtweiches Haar an seinem Ohr entlangstrich oder wenn nur im Vorbeigehen ihr Duft in seine Nase stieg.
    Trotzdem blieben solche Augenblicke der Glückseligkeit seltene Ausnahmen. Bei aller Kollegialität verhielt sich JJ ihm gegenüber die meiste Zeit auf eine fast unterkühlte Weise distanziert. Einmal hatte Tim sie beiläufig gefragt, ob es auch einen Mr Jason gebe. »Ja, meinen Vater, aber der ist seit vielen Jahren tot«, hatte sie knapp erwidert und in ihrer ganzen Körpersprache erkennen lassen, dass die Erörterung persönlicher Beziehungen von Projektmitgliedern für sie zu den großen Tabus zählte, die niemand ungestraft verletzen durfte. Wenig später – im Hinterkopf notierte Tim die zehnte Stunde des elften Tages seiner Schwärmerei für Jamila Jason – zeigte sie ihm, wie ernst sie es mit ihrer Professionalität nahm.
    »Ich finde, Ihr Lesetempo ist in den letzten beiden Tagen spürbar gesunken, Tim.« Sie hatte sich rechts neben ihn gesetzt und die Stimme gesenkt, weil an diesem Morgen schon einige Studenten im Lesesaal waren.
    Er sah verdutzt von seiner Lektüre auf, ein Buch mit dem Titel A little geste of Robyn Hode. »Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.«
    »Es stimmt aber.«
    »Führen Sie über meine Tagesleistung Buch?«
    »Ja. Und ich fürchte, was immer zu dieser Verlangsamung führt, könnte auch Ungenauigkeiten zur Folge haben.«
    »Ungenauigkeiten? Wobei?«

    »Beim Memorieren? Jeder Titel, den Sie in Ihrem Gedächtnisspeicher ablegen, ist ein potenzieller Schlüssel zur Beale-Chiffre. Wenn Sie sich nicht konzentrieren, könnten Sie die Lösung schlicht übersehen.«
    »Nur keine Sorge, JJ, mir entgeht schon nichts. Ich bin der Mann, der nichts vergessen kann.«
    »Das Thema ist zu ernst, um darüber Witze zu machen.«
    »Ich mache keine Witze. Nur zu, fragen Sie mich nach irgendeiner Passage in einem x-beliebigen Buch.«
    »Tim, es geht nicht darum…«
    »›Wie schön sind deine Brüste, meine Schwester, liebe Braut! Deine Brüste sind lieblicher denn Wein, und der Geruch deiner Salben übertrifft alle Würze‹…«
    »Aufhören!«, protestierte JJ und presste sich die Hände auf die Ohren. Mehrere Gesichter im Lesesaal sahen interessiert zu ihnen herüber. »Das war jetzt wirklich unnötig, Tim«, fügte sie raunend hinzu. Ihre gewohnte Abgeklärtheit war wie weggeblasen.
    Sein Mangel an Einfühlungsvermögen machte ihn für ihre emotionale Misere blind. Er wollte ihr unbedingt beweisen, dass sie auf ihn zählen konnte. »So steht es aber im Hohelied Salomos, Kapitel 4, Vers 10. Die King James habe ich am ersten Tag memoriert. Mir gefällt auch der zweite Vers des zweiten Kapitels: ›Wie eine Rose unter den Dornen, so ist meine Freundin unter den Töchtern…‹«
    »Schluss jetzt damit!«, zischte sie. »Ich glaube Ihnen ja, dass Ihr Gedächtnis lückenlos funktioniert. Trotzdem irre ich mich nicht, was Ihr vermindertes Lerntempo betrifft. Ich mache mir um Sie Sorgen, Tim. Wenn Sie einen Tag Pause

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