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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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den Mund jetzt wieder zumachen.«

    Für Freunde der englischen Küche war das Dinner ein Genuss.
    Trotzdem rührte Tim das Essen kaum an. Er war viel zu fasziniert von der Frau auf der anderen Seite des ovalen Tisches. Jamila Jason. Elf Buchstaben. Fünf Vokale. Beides Primzahlen. Tim liebte Primzahlen. In seinem Bewusstsein strahlten sie wie flüssiges Gold und bereiteten ihm Wohlbehagen. Und jetzt übertrugen sich diese Empfindungen auf sein Gegenüber. Er hatte nie so viel Geist in einem derart schönen Körper versammelt gesehen.
    »Schmeckt es Ihnen nicht, Tim?«, erkundigte sich Afsahi besorgt. Man hatte sich schnell darauf geeinigt, in der gegenseitigen Anrede auf allzu strenge Förmlichkeiten wie akademische Titel und Familiennamen zu verzichten.

    Schnell stopfte sich der Gefragte ein großes Stück Rindfleisch in den Mund. »Himmlisch!«, versicherte er.
    JJ senkte den Blick auf ihren Teller. Sie war ein eher ernster Charakter, jetzt aber schmunzelte sie wieder.
    Tim hatte dieses Schmunzeln auf Anhieb gemocht. Es wurde von kleinen Grübchen auf JJs Wangen begleitet, an denen er sich nicht sattsehen konnte. Er unterdrückte ein schmachtendes Seufzen.
    »Unser deutscher Kollege steht dem Projekt immer noch skeptisch gegenüber«, bemerkte der Professor. Er nahm die Pflichten des Gastgebers, zu denen auch die Konversation gehörte, erkennbar ernst.
    Die feinen Augenbrauen der Historikerin hoben sich. »So?
    Darf man fragen, warum?«
    »Mir kommt das Ganze vor wie der neueste Aufguss von Jäger des verlorenen Schatzes, nur mit Ihnen statt mit Harrison Ford in der Hauptrolle«, erklärte Tim. Kaum waren die Worte heraus, hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. JJ sollte ihn nicht für einen arroganten Schnösel halten. »Eine Besetzung, die mir allerdings viel besser gefällt«, fügte er rasch hinzu.
    »Er trägt sein Herz auf der Zunge«, warf Afsahi ein.
    »Ist mir schon aufgefallen«, antwortete JJ und wandte sich wieder Tim zu. »Was wir in unserem Team tun, sieht nicht nur aus wie eine Schatzsuche, es ist auch eine.«
    »Oh? Das hat sich bei Zircon aber ganz anders angehört.«
    Sie lächelte schelmisch. »Gold und Silber sind nebensächlich.
    Wir jagen nach etwas Wertvollerem: neuen Erkenntnissen über die unechte Unabhängigkeitserklärung.«
    »Sie tun so, als wäre Ihre Theorie schon bewiesen. Wie kommen Sie auf die Idee, dass ausgerechnet ein Abenteurer wie Beale in Dinge eingeweiht war, von denen niemand sonst zu wissen scheint?«

    Während sie antwortete, stützte JJ ihren rechten Ellenbogen auf den Tisch und machte unter Verwendung der Gabel schwungvolle Gesten mit rasanten Richtungswechseln, die sie einzig mit dem Handgelenk ausführte. »Bitte verwechseln Sie nicht seine Zeit mit der unsrigen. Das Ende der Amerikanischen Revolution lag, als er 1822 dem Hotelier in Lynchburg seine Kiste anvertraute, nicht einmal vierzig Jahre zurück. Ist Ihnen bereits aufgefallen, dass die beiden Vornamen Beales auf einen Mann hindeuten, der wie keine andere Persönlichkeit mit der Entstehung der Declaration of Independence verbunden ist?«
    »Thomas Jefferson«, murmelte Tim staunend den Namen jenes Mannes, dem der Kontinentalkongress die Formulierung der Unabhängigkeitserklärung übertragen hatte. Jeffersons Entwurf war am 4. Juli 1776 verabschiedet worden, ein Datum, das alljährlich von den Patrioten der USA mit Posaunen und Paraden gefeiert wurde. Eigentlich hätte Tim, als er in Berlin zum ersten Mal von Beale in der Tribune las, diesen als Namensvetter des berühmten Staatsmannes erkennen müssen, aber vermutlich war das damit einhergehende Glimmen in seinem Geist von dem Funkengewitter überstrahlt worden, das ihm die Nachricht über die Rosenholz-Dateien beschert hatte.
    »Interessanter Zufall, nicht wahr?« JJ schien es zu genießen, ein Genie wie Tim Labin verblüfft zu haben.
    »Das kann mal wohl sagen. Sie behaupten jetzt aber nicht, der Vater der Unabhängigkeitserklärung und der Cowboy seien ein und dieselbe Person, oder?«
    »Das wäre zu weit hergeholt. Ich könnte mir aber vorstellen, dass Thomas Jefferson Beale nur ein Pseudonym ist.
    Indem Beale – oder wie immer er in Wahrheit hieß – auf den Vater der Unabhängigkeitserklärung anspielt, könnte er tatsächlich das Dokument selbst gemeint haben.«

    »Im Sinne von ›Seht her, ich kenne die Wahrheit über euer Heiligtum‹, meinen Sie?«
    »So in etwa. Möglicherweise deutet die Übereinstimmung der Namen auch auf eine

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