Der Mann, der nichts vergessen konnte
Morriss, dem Besitzer des Washington Hotels zu Lynchburg, eine kleine Kiste an und verfügte in einem beigelegten Brief: Wenn Morriss innerhalb von zehn Jahren – also bis 1832 –
nichts von ihm höre, dann dürfe er das Behältnis öffnen…«
»… aber Beale blieb verschollen, Morriss fand in der Box drei in Zahlenreihen verschlüsselte Blätter und hatte keine Ahnung, wie man sie dechiffrieren könnte.«
»Genau so war’s. Bis ein mysteriöser Unbekannter 1885 unter dem Titel The Beale Papers in Lynchburg eine bemerkenswerte Schrift veröffentlichte, die nicht nur den Klartext des zweiten der drei Blätter enthielt, sondern auch die Einladung zum Knacken der anderen beiden Seiten. Er selbst sei über dem Versuch alt und arm geworden, klagte der Verfasser. Legt man die von ihm entzifferten Angaben des zweiten Blattes zugrunde, dann sind die von Beale deponierten Edelmetalle und Juwelen heute nicht weniger als zwanzig Millionen Dollar wert. Zehn Prozent davon könnten Ihnen gehören, Dr. Labin.«
Tim zuckte die Achseln. »Ganz nett, aber Geld ist für mich nur von untergeordneter Bedeutung. Als Schnorrer lebe ich ganz gut.«
Der Professor lachte leise in sich hinein. »Ihre Offenheit ist wirklich entwaffnend. Mir ist schon zu Ohren gekommen, dass Sie mehr die geistigen Herausforderungen reizen. Deshalb habe ich auch in meinem Brief an Sie…« Ein lauter Klingelton unterbrach den Dialog. »Das muss Dr. Jason sein. Nur eine Minute bitte«, empfahl sich Afsahi und verließ das Zimmer.
Tims Blick wanderte zurück zu dem Haufen aus Spielfiguren und Behausungen toter Meeresbewohner. Wo rührte wohl das Flimmern her, das er beim Anblick der obskuren Stellung in seinem Geist gesehen hatte? Während er noch überlegte, hallte heiteres Geplauder aus der Diele herüber. Offenbar waren der Dekan und die Historikerin alte Bekannte. Seit Tim in seiner Sturm-und-Drang-Phase von einer Karriere als Klavier- oder Violinvirtuose geträumt hatte, pflegte er menschliche Stimmen nach ihrer Tonhöhe zu klassifizieren. Hier hatte er es mit einem angenehmen Mezzosopran zu tun: hoch, aber nicht zu hoch, mit einer warmen Nuance von Samt und Holz. Sein Puls beschleunigte sich, und als im nächsten Moment die Amerikanerin den Raum betrat, begann er zu rasen. Lächelnd kam sie auf ihn zu.
In mancher Hinsicht sah Tim die Welt mit anderen Augen als gewöhnliche Menschen, und so verhielt es sich auch mit jenen Gefühlen, die über seine Sinne geweckt wurden. Oft waren diese verkümmert, jetzt dagegen explodierten sie förmlich. Er war überzeugt, kein Foto, nicht einmal ein dreidimensionales Hologramm, konnte die Schönheit dieser Frau auch nur annähernd wiedergeben.
Obwohl sie mit Bluejeans und einem körpernahen hellblauen Pullover aus feiner Wolle alles andere als aufreizend gekleidet war, machte ihre perfekte Figur ihn geradezu taumeln. Er musste sich zwingen, seinen Blick nicht allzu lang bei ihren Rundungen verweilen zu lassen, sondern ihr fest in die Augen zu sehen, kein allzu großes Opfer allerdings, denn auch diese waren betörend: groß und – das überraschte ihn – grün wie polierte, sonnendurchflutete Jade. Mit einer Anmut, die zur Choreografie eines exotischen Tanzes gepasst hätte, ließ sie ihren Kopf von links unten nach rechts oben schwingen, nicht, um ihren Bewunderer auch noch des letzten Fünkchens Verstand zu berauben, sondern lediglich, um ihr seidiges, dunkles Haar über die Schulter zu werfen.
»Darf ich vorstellen: Dr. Jamila Jason«, bemerkte der Professor.
Tim hatte ihn bis dahin nicht wahrgenommen. Ehe er sich’s versah, lag Jamila Jasons Hand schon in der seinen. Die Berührung war ihm nicht allzu unangenehm.
»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Dr. Labin. In natura gefallen Sie mir besser als im Fernsehen«, sagte die Amerikanerin.
»Dito«, murmelte er.
Sie schmunzelte, als sei ihre Wirkung auf Männer ein ganz privates Vergnügen, das man wie einen guten Cognac still genießt. »Eigentlich nennen mich im Team alle nur JJ.«
»Ich bin Tim«, sagte er. Zu mehr war er nicht fähig.
JJ befreite ihre Hand aus der seinen und holte tief Luft. »Ich könnte einen Büffel verschlingen, solchen Hunger habe ich.«
»Dann sollten wir uns ins Speisezimmer begeben«, schlug Afsahi vor. »Es gibt Roastbeef mit Plumpudding. Rose hat schon alles gedeckt.«
JJ marschierte voran. Sie schien sich in dem Haus auszukennen.
Der Professor stieß Tim mit dem Ellenbogen an und flüsterte:
»Sie können
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