Der Mann, der nichts vergessen konnte
Gehirns, weil wir nur sehen, was wir
kennen. Weil es im normalen Leben nicht von
Vorteil ist, jedes Detail wahrzunehmen.«
Allan Snyder, Hirnforscher
Tims »großes Fressen« wurde im Hauptlesesaal eines etwa siebzig Jahre alten Bibliotheksbaus angerichtet, dessen markantestes Merkmal ein zwölf Stockwerke hoher Turm war.
Selbiger diente, wie Prof. Afsahi es salopp ausgedrückt hatte, »als Hochregallager« für die nicht frei zugänglichen Titel. Der beeindruckende Komplex lag an der West Road, nur dreihundert Schritte vom nördlichen Ende des Sidgwick-Areals entfernt.
Obwohl der große Lesesaal Tim nicht die Rückzugsmöglichkeiten bot, die er in seiner Berliner Lieblingsbücherei so schätzte, kam er mit seiner neuen Umgebung von Anfang an gut zurecht und konnte konzentriert arbeiten. Wenn er, was allerdings selten geschah, von seiner Lektüre aufblickte, dann sah er Studenten, Dozenten und andere Leute, die ihren Geist an den Futtertrögen des Wissens nährten. Doch selbst in dieser – buchstäblich – erlesenen Gesellschaft genoss er eine Sonderstellung. Jeden Morgen sicherte ihm JJ im äußersten Winkel des Raums seinen »Bannkreis«: vier reservierte Tische, von denen er grundsätzlich den Eckplatz benutzte. So konnte er ungestört schmausen.
Die Universitätsbibliothek von Cambridge war für ihn tatsächlich ein Gourmettempel, gegen den sich die Berliner Amerika-Gedenkbibliothek wie ein Fast-Food-Restaurant ausnahm. Er schwelgte in alten Büchern, vertilgte Handschriften, schlemmte Pamphlete und verleibte sich genussvoll alles ein, was auch nur im Entferntesten ein Thomas Beale Anfang des 19. Jahrhunderts gelesen haben könnte. Für einige besondere Publikationen musste er in den kleineren »Munby Lesesaal für seltene Bücher« oder in einen anderen, ausschließlich den Manuskripten vorbehaltenen Raum umziehen.
In gewohnter Manier legte er bei der Lektüre ein atemberaubendes Tempo an den Tag. Wo immer möglich, scannten seine Augen zwei Seiten gleichzeitig ein.
Altertümliche Schrifttypen oder schlecht entzifferbares Gekritzel konnten ihn nur vorübergehend zu einer Drosselung des Tempos zwingen. Sein Gehirn stellte sich binnen weniger Seiten auf die ungewohnten Formen ein, und bald flutschte der Text wieder wie zuvor in seinen nicht flüchtigen Speicher.
Schon in den ersten Tagen des »großen Fressens« begriff Tim, wie unverzichtbar sein Umzug nach England gewesen war. Von Berlin aus hätte er niemals so tiefe Einblicke in den literarischen Kosmos der »Ära TJB« erlangen können (nach eigenem Vorbild kürzte Jamila Jason den Namen Beales meist auf diese Weise ab). In gewisser Hinsicht verdankte Tim die literarische Völlerei Queen Anne, der letzten Stuart auf dem englischen Thron. Vier Jahre bevor sie 1714 das Zeitliche gesegnet hatte, war ein nach ihr benanntes Statut in Kraft getreten, das Autoren wie Verlagen Schutz vor Raubdrucken gewährte. Hierzu mussten sie ihre Publikationen vor dem Ersterscheinungstag bei Stationers’ Hall registrieren lassen und an diese staatliche Einrichtung neun Bände des Werks senden.
Diese Belegexemplare wurden zu bestimmten Stichtagen an die ausgewählten Referenzbibliotheken weitergeleitet. Seit 1709 gehörte die Cambridge University Library zu diesen privilegierten Depots.
Anfangs hatten die Verlage ihr Urheberrecht nur für voraussichtliche Bestseller in den Titelkatalog eintragen lassen, wodurch das Gelage für Tim überhaupt bewältigbar blieb. Immerhin besaß die Cambridge-Universität noch ungefähr ein Sechstel der zwischen 1758 und 1814 registrierten siebzehntausend Werke. Das örtliche Projektteam, bestehend aus Tim Labin, Zircon Afsahi und Jamila Jason, hatte aus den bis zum Jahr 1822 erschienenen Titeln dreitausend Kandidaten ausgewählt, die nach ihrer Popularität gewichtet und sortiert wurden. Tim sollte sich zunächst die Anfang des 19. Jahrhunderts beliebtesten Werke einverleiben – auf Platz eins stand die King-James-Bibel – und sich dann bis zu den Exoten durchbeißen. Er rechnete mit einem täglichen Pensum von etwa dreißig Büchern. Wenn er Pech hatte, würde er den Schlüssel für die Beale-Chiffren erst nach einhundert Tagen finden.
Oder gar nicht.
Aber darüber machte er sich vorerst keine Gedanken. Wie ein Besessener stürzte er sich in die Arbeit. Während sich Prof.
Afsahi tagsüber meist im Hintergrund hielt, wurde er von JJ geradezu bemuttert. Sie versorgte ihn in jeder Hinsicht mit Nachschub.
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